Aus: Ausgabe vom 23.03.2016, Seite 12 / Thema

Der Mars greift an

Zum Neoliberalismus gehört der Krieg. Über die NATO-Aggression 1999 gegen Jugoslawien und ­darüber, dass »Deutsche wieder töten, aber nicht ­sterben dürfen«

Von Wolfgang Fritz Haug
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»Der Krieg hat in allen Medien der funktionalen Lüge das Wort erteilt.« Die Propaganda des Feindes musste derweil vernichtet werden. Von NATO-Bomben am 23. April 1999 zerstörtes Gebäude des ­jugoslawischen Staatsfernsehens

Am heutigen Mittwoch feiert der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug seinen 80. Geburtstag. Der Emeritus der Freien Universität Berlin ist Mitbegründer und Herausgeber der seit 1959 erscheinenden Zeitschrift Das Argument und zudem Mitherausgeber der kritischen Gesamtausgabe der »Gefängnishefte« von Antonio Gramsci sowie des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus«. Wir gratulieren Haug und veröffentlichen aus seinem jüngst erschienenen»Werkstatt-Journal 1990–2000«an dieser Stelle Auszüge, in denen er sich kritisch mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien auseinandersetzt, der am Donnerstag vor 17 Jahren begann. (jW)

28. März 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Die FAZ radikalisiert, wie die Alldeutschen im Ersten Weltkrieg, die Ziele des Krieges. Autonomie des Kosovo genügt ihnen nicht mehr. Nun soll es herausgelöst werden aus dem Staatsverband. Derweil erscheint im Feuilleton die radikalste Kritik an diesem Krieg (Robert Menasse). Die Aufnahmefähigkeit dieser Zeitung kennt kaum Grenzen – im Feuilleton. Klugheit, gemischt mit Verachtung. (…)

Wenige Tage vor dem Angriff auf Jugoslawien erklärte der deutsche NATO-General Naumann: »Wir werden nicht dulden, dass es in Europa Krieg gibt.« Das war die Kriegserklärung, die erste in Europa seit 1945. Ähnliche Heuchel-Paradoxe sammelte Robert Menasse (»Serbische Lektionen«, FAZ, 27.3.): Der Expazifist Fischer legitimiert die Aggression mit dem Satz: »Aggression darf sich nicht lohnen.« Verantwortlich für Bomben auf Belgrad zum Schutz von Separatisten ist ein Bündnis von Ländern, die seit Jahren Separatisten bei sich als Terroristen bekämpfen: Spanien (die Basken), England (die Iren), Türkei (die Kurden) – und eines Landes, der Bundesrepublik, das es für selbstverständlich ansah, dass eine Separation mit Wiedervereinigung zu Bedingungen des Stärkeren enden muss. »Bombenflugzeuge zum Schutz der Albaner starten von den Flughäfen jenes Landes (Italien), von dessen Häfen die Schiffe mit Albanern wieder ins offene Meer geschickt werden.« Österreich lässt seit einem halben Jahrhundert den staatsvertraglich zugesicherten Anspruch der slowenischen Minderheit auf eigne Ortstafeln und slowenisch erteilten Schulunterricht unerfüllt. Im Namen der Nichtwiederholung des Weltkriegs wird der dritte herbeigeredet. Die UNO ist bereits so ausgeschaltet wie seinerzeit der Völkerbund.

Dass der Informationskreis geschlossen ist, verrät das Fernsehen, wenn es »live« in sogenannte Krisengebiete schaltet und der dortige Korrespondent auf die Frage, welche Kenntnisse er habe, sagt, »dieselben wie Sie zu Hause! Wir schauen die ganze Zeit CNN!« – Die Feuilleton-Redaktion, erschrocken ob ihrer eigenen Kühnheit, diese Äußerung abgedruckt zu haben, eskortiert sie mit einer Kritik an Handke, der den Krieg zuvor kritisiert hatte, Kritik freilich vorgeblich nicht an seiner Kriegskritik, sondern an der dabei gebrauchten Metaphorik. Handke hatte geschrieben: »Der Mars greift an, und seit dem 24. März sind Serbien, Montenegro, die Republika Srbska und Jugoslawien das Vaterland für alle, die keine Marsianer und grüne Schlächter geworden sind.«

29. März 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Der russische Premierminister befand sich auf dem Flug nach Washington, als ihn die Nachricht von der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO unter amerikanischer Führung erreichte. Er ließ das Flugzeug umdrehen. Der Petersburger Schriftsteller Viktor Kriwulin (»Der neue Kalte Krieg«, FAZ, 27.3.) interpretiert dies als Kehrtwende der russischen Politik und als »ebenso symbolischen Akt wie der Schuss von 1914«, der den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Primakows Befehl, die Maschine umdrehen zu lassen, ein defensiver und reaktiver Akt, erscheint nun im Organ der hiesigen Kriegstreiber (denn als solche betätigen sich die politischen Redakteure der FAZ seit Jahren) als »Erklärung eines neuen ›Kalten Krieges‹«. Kriwulins Artikel ist interessant, weil er die Dynamik der möglichen Entgrenzung des Krieges gegen Jugoslawien zeigt.

3. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Günther Nonnenmacher (»Drei Gefangene«, FAZ, 3.4.) nimmt Maß an den Kriegsgegnern und spricht zugleich kühl das Verschwinden der Sowjetunion als Bedingung für die Möglichkeit dieses Krieges aus: »Das ist eine seltsame Koalition, zu der die Kommunisten in Italien und Frankreich oder die PDS in Deutschland gehören, Pazifisten, Nationalisten unterschiedlicher Couleur, aber auch jene Generation politischer Führer, die von den Zeiten geprägt sind, als der Krieg per definitionem ›kalt‹ bleiben musste, weil man befürchtete, nach dem ersten Schuss werde ein Inferno ausbrechen.«

Doch auch jetzt lässt sich das Inferno nicht auf diejenigen begrenzen, die man treffen will, sondern verschlingt vor allem jene anderen mit, ja sogar in erster Linie, denen man helfen zu wollen behauptete. Freilich erscheint gerade diese behauptete Schutzabsicht immer mehr als Schutzbehauptung, die das wirkliche Kriegsziel verbirgt: die weitere Demontage der Bundesrepublik Jugoslawien.

Günter Bannas (»Bewährungsprobe einer Generation«, FAZ, 3.4.) konstatiert den durch den Krieg bewirkten »Paradigmenwechsel in der deutschen Innenpolitik«: Schröder ist nicht mehr primär der »Automann«, geschweige denn der Kämpfer gegen Arbeitslosigkeit. Alle bisherigen Auseinandersetzungen sind jäh »relativiert«. Dabei umschreibt Bannas das neue Paradigma nur abstrakt und negativ: »Schröder steht vor Aufgaben, nach denen er sich nicht gesehnt hat. Nicht einmal deren Inhalt und deren Konsequenzen sind derzeit zu erkennen. In der Rückschau erscheinen die Risiken, die Adenauer, Brandt und Kohl bei ihren außenpolitischen Entscheidungen eingegangen sind, gering im Vergleich zu dem, was auf Schröder und seine Regierung noch zukommen wird. Auf fatale Weise gewinnt die gerade einen Monat alte Prognose eine neue Bedeutung, mit dem Rücktritt Lafontaines habe Schröders Kabinett die Chance eines ›zweiten Anlaufs‹ erhalten.« Bannas sieht als die eigentliche, im Schnellkurs zu lernende »Lektion, das Schicksal eines Landes entscheide sich in der Außenpolitik und nicht (beispielsweise) in der Rechts- oder in der Sozialpolitik«. »Spannungen und Widerspruch sind nicht auf die beiden Regierungsparteien beschränkt. Sie spiegeln die vom Kosovo ausgehenden Veränderungen und Ungewissheiten in der Gesellschaft wider.« – Doch vom Kosovo gehen sie allenfalls in zweiter Instanz aus, als Rückkoppelung, der die wahre Koppelung, für die Bannas keine inhaltlichen Worte findet, vorausging. – »Schröder hat den Umstand zu bewältigen, dass die vom Wohlstand geprägte Gesellschaft nicht auf das vorbereitet ist, was der Krieg im Kosovo noch bringen mag.« – Nicht der Angriffskrieg gegen das souveräne Land Jugoslawien ist für die FAZ das Problem, sondern die Zivilgesellschaft als Gesellschaft von Zivilisten, die ihr Leben nach zivilen Motiven organisieren. – Schröder und seine Regierungsmannschaft handeln unter fremdgesetzten Zwängen, an denen sie »nicht einmal mehr zweifeln dürfen, wollen sie die Zweifler überzeugen«. »Unverschuldet« haben sie »zu verantworten, dass das NATO-Bündnis sich auf eine Militärstrategie im Kosovo verständigte, die aus heutiger Sicht nicht zu Ende gedacht ist, die aber nicht von Bonn aus, sondern nur im Bündnis zu ändern ist«.

4. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – »Am Platz London wird es ungeschminkt ausgesprochen: Der Kosovo-Krieg ist auch ein Krieg gegen den Euro.« (FAZ, 1.4.) Von alledem, was Lafontaine umtrieb, kann eh keine Rede mehr sein: ausgeglichener Haushalt, feste Währung, Zinssenkung. Der Krieg kostet. War es vorschnell, von der Krise des Neoliberalismus zu sprechen? Inzwischen sieht es eher so aus, dass die neoliberale Revolution ihre Eltern frisst. Dann wäre etwa Kohls Abwahl kein Krisenzeichen, sondern nur die Etappe eines Normalfalls. Neoliberalismus ist nicht nur mit Sozialdarwinismus, sondern auch mit Krieg geladen. Mit Krieg wurde die neoliberale Alleinherrschaft eingeläutet.

6. April 1999

Dialektik des Kosovokrieges. – »Der Krieg im Kosovo pflügt die politische Landschaft Deutschlands um« (E. F., »Nachbarschaften«, FAZ, 6.4.). »Eine nachhaltige Schwächung der serbischen Militärmacht ist jetzt ein Ziel an sich«. Wer noch auf Interessenausgleich zwischen den Bürgerkriegsparteien im Kosovo drängt, »betreibt das Geschäft des serbischen Aggressors«. Jetzt ist »das westliche Abschreckungsbündnis zum Interventionsinstrument geworden« (ebd.). – Karl Feldmeyer verlangt im Leitartikel (»NATO-Fragen«), die »politische Ebene« müsse sich im Krieg »auf die Entscheidung beschränken, ob sie sich militärisch durchsetzen will«, und alles übrige den Militärs überlassen. Die (gewählten) Regierenden sind auszuschalten in der Frage des Einmarsches. – Erstaunlich, mit welch nüchterner Klarheit der harte Konservative Alfred Dregger (»Den Krieg beenden«, FAZ, 6.4.) die Fahrlässigkeit kritisiert, mit der die Regierung in diesen Krieg hineingeschlittert worden ist: Es ist ein Krieg, »von dem niemand zu wissen scheint, wie er beendet werden soll«. Die Politik hat die Kontrolle verloren. Die Massenvertreibung hat das Mittel zu ihrer Verhinderung erst richtig produziert. »Ein Krieg, der das Gegenteil dessen bewirkt, was er politisch bezwecken sollte, muss beendet werden.« Es war falsch, die UNO und Russland draußen zu halten. Nicht ein NATO-Protektorat soll angezielt werden, sondern neue Verhandlungen unterm Dach der OSZE. Legitim ist die NATO für Dregger nur als »Verteidigungsbündnis«, nicht für einen Eingriff als Angriffskrieg out of area.

7. April 1999

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Wolfgang Fritz Haug, geboren am 23. März 1936 in Esslingen am Neckar

Dialektik des Kosovokrieges. – Der äußere Gegensatz erzeugt innere Einheit. Die Verfolgung des Zieles vernichtet das Ziel. Die politische Ausweglosigkeit radikalisiert die Kriegsziele. Der »Sozialismus« wird »Nationalsozialismus«. Magnetisch zieht es junge Männer der kosovarischen Diaspora von überall her in den Krieg. Das Abkommen, dessen Unterschreibung durch Jugoslawien herbeigebombt werden sollte, ist kein Thema mehr. Die NATO wird Jugoslawien das Kosovo entreißen. Die FAZ fordert heute, was bisher tabu, den Einmarsch. Sie rühmt die »große politische Statur« des SPD-Verteidigungsministers Rudolf Scharping. Verblüffend, wie sich Züge des Ersten Weltkriegs im Kleinen wiederholen, obwohl Deutschland diesmal auf der Seite der Supermacht steht. Zwischen den Parteien herrscht Burgfrieden; die PDS, die diesem faulen Frieden, der den Krieg trägt, nicht beitritt, meldet 200 Eintritte, die Hälfte im Westen, die meisten bisherige Grüne und Sozialdemokraten.

11. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Der Vertragsentwurf von Rambouillet, den nicht zu unterschreiben Serbien jetzt damit bezahlt, dass seine Infrastruktur und Industrie zerbombt werden, kommt in einem Ausmaß und einer Schärfe einer aufgezwungenen bedingungslosen Kapitulation gleich, die der Öffentlichkeit nicht bewusst war, nicht einmal den politisch Aktiveren. Dies deutlich gemacht zu haben, ist u. a. das Verdienst von Hermann Scheer (ND, 10.4.). Bedingungen, die jenseits der zu Beginn der Verhandlungen »noch offiziellen Zielsetzung auch des Westens« liegen, sind u. a. folgende: 1. Nach drei Jahren sollte eine Volksabstimmung über die endgültige Abtrennung des Kosovo von Jugoslawien stattfinden: Die Öffentlichkeit hatte man in dem Glauben gelassen, es ginge um Autonomie im Rahmen der Bundesrepublik Jugoslawien. 2. Die im Kosovo zu stationierenden Truppen zur notfalls militärischen Durchsetzung einer Friedenspflicht sollten auf Betreiben der USA nur mehr von der NATO gestellt werden; die ursprünglich anvisierte Mitwirkung Russlands wurde ausgeschlossen. 3. Damit war auch das Mandat der UNO hinfällig. – Die Zerstörung des seit Gorbatschow angebahnten Vertrauensverhältnisses zwischen Russland und Westeuropa sowie die Ausschaltung der UNO sind die beiden großpolitischen Hauptschäden von einem geschichtlichen Ausmaß, das sich noch nicht ermessen lässt. Bestimmungen des Entwurfs von Rambouillet: juristische Immunität der NATO und ihres Personals (Art. 6); unbeschränkte Bewegungsfreiheit »und das Recht auf die Nutzung sämtlicher Regionen oder Einrichtungen, die benötigt werden« (Art. 8); usw. usf. Es war politisch blind, nicht damit zu rechnen, dass die Bombardierung die Serben zusammenschweißen würde. Ferner musste die fanatisierende Wirkung, damit eine drastische Verschärfung des Terrors gegen die kosovarische Zivilbevölkerung, von jedem vorhergesehen werden, der irgend etwas über die Konflikte, ihre Geschichte und aktuellen Gefühlslagen weiß. Desto unverständlicher ist, dass die NATO keine Vorsorge für die Flüchtlinge getroffen hat. Zunächst glaubte man, die Drohung mit Bombardierung werde reichen. Als sich das nicht bestätigte, glaubte man offenbar, die Aufnahme von Bombardierung werde reichen. Als auch dies sich als Irrtum herausstellte, glaubte man an ihre Verschärfung, ihre Intensivierung und die Ausdehnung der Ziele auf nichtmilitärische Infrastruktur und Industrie (Brücken, Fernsehanstalten, Haushaltswarenfabriken). Seit dies nicht hilft, redet man unaufhörlich über einen militärischen Einmarsch. Hier versichern die regierenden Politiker, Bodentruppen sollten erst nach einer Kapitulation Jugoslawiens eingesetzt werden. Die Fernsehjournalisten pflegen dabei immer das Wörtchen »noch« einzufügen. Moralisch motiviert ist die Verneinung der Invasion mit Bodentruppen bei Bejahung der Bombardierung keinesfalls. Der Distanzkrieg, bei dem Vernichtung und Tod einseitig und fast ausschließlich den Angegriffenen zuteilwerden, stellt für sie kein Problem dar. Bislang hielt man das für amerikanisch, dass Bedenken schwiegen, bis die ersten Särge heimgeschickt wurden. Jetzt ist der ganze Westen in diesem Sinne »amerikanisch«. Deutsche dürfen zerstören und töten, aber nicht sterben. Rambouillet soll zum Versailles der Serben werden.

12. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Eine weitere Facette, in der die »Wende« ihr historisches Gesicht zeigt: die Neuaufteilung der Welt, die nicht nur Folge, sondern auch Ursache des staatssozialistischen Zusammenbruchs ist, weil ihr eine sprunghafte Entwicklung der Produktivkräfte zugrunde liegt. Doch die SU musste ausscheiden, damit Krieg wieder »normales« Mittel der Konfliktaustragung würde. Markus Wehner stellt Jugoslawien als die »beklemmende Ausnahme« vom vor zehn Jahren eingetretenen Ende der »kommunistischen Diktaturen« dar (»Im Jahre Zehn«, FAZ, 12.4.). Damit drückt er vermutlich den entscheidenden Grund aus, warum Jugoslawien bombardiert wird. In Jalta soll Churchill auf der Landkarte Jugoslawien mit 50/50 markiert haben. Das untersagte es jeder der beiden Supermächte, Jugoslawien unter seine Gewalt zu bringen. Seit dem Verschwinden der östlichen Supermacht hört »der Westen« nicht auf, die Zerstörung Jugoslawiens zu fördern. Nicht zuletzt hat die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer zuvorkommenden Anerkennung von Slowenien dazu beigetragen, den ersten Stein irremediabel herauszubrechen. Nach dem reichsten strebte das zweitreichste Bundesland Jugoslawiens, Kroatien, der Europäischen Union zu. Seine Politik und Kriegführung nahmen faschistische Züge an. Innerhalb weniger Tage wurde die Krajna entvölkert; eine Viertelmillion Serben, deren Vorfahren dort seit Jahrhunderten gesiedelt hatten, wurden viehisch vertrieben, ohne dass der Westen Anstoß nahm. Im Falle des Kosovo wird Vertreibung als Völkermord angeprangert.

Der Krieg hat in allen Medien der funktionalen Lüge das Wort erteilt. Wie über den Wahrheitswert der öffentlich geäußerten Behauptungen kann man über die strategische Rationalität »hinter« der politisch-militärischen Vorgehensweise der NATO-Staaten nur spekulieren. Oder sollte es hinter dem Tarnvorhang leer sein? Sollten sie sich gar nichts gedacht haben? Milosevic sitzt nach 20 Kriegstagen »fester im Sattel denn je« (Werner Adam, »Wie lange noch?«, FAZ). Sollten die Strategen hinter ihren verschlossenen Türen diesen Fall erst gar nicht in Betracht gezogen haben? Und doch scheint die Solidarisierung in ähnlicher Situation, schaut man sich in Welt und Geschichte um, eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Das paradoxe Rezept der deutschen Regierung, sich als weltpolitisch handlungsfähig zu erweisen, besteht darin, dass sie jede politische Eigeninitiative vermeidet. Das ist Schröder. Lafontaine hätte wohl lieber einen deutschen Gaullismus oder Mitterrandismus praktiziert. Das neoliberale Freihandelsregime ist eines der globalen Marktöffnung. Homogene Bewegungsmöglichkeiten fürs global operierende Kapital. Konvertibilität der Währungen, Transferierbarkeit von Gewinnen, globaler Zugang zu Ressourcen und Absatzgebieten, garantierte Investitionsmöglichkeiten usw. usf. Die Grenzen werden entweder mit ökonomischem bzw. finanziellem Druck oder mit Waffengewalt geöffnet. Der Mechanismus: Völkermord vor laufenden Kameras, in den nicht eingegriffen wird, dient zur Ansparung interventionistischer Motive, die dann bei Gelegenheit abgehoben werden können. In Ruanda gab es Völkermord, und es wurde nicht eingegriffen; im Kosovo gab es keinen Völkermord, und es wurde eingegriffen, »um nicht noch einmal nicht einzugreifen«. Jugoslawien soll heute zerlegt und zu Teilen NATO-Protektorat werden, wie 1938 die Tschechoslowakei, mit dem Argument, man dürfe nicht, wie eben dort 1938, zulassen, dass ein Hitler sich bedient. Austritt aus Sozialpolitik, Kriegseintritt: Der Zusammenhang ist der einer Folge, die einen situativen Umschlag darstellt. Schröder sei als »Kriegskanzler« zum ernstverantwortlichen Politiker geworden, rühmt die FAZ heute. Der Zusammenhang ist aber auch der des Blair-Clinton-Schröderschen »Dritten Wegs«: Modernisierung der Gesellschaft im Sinne neoliberaler Globalisierung. Seine Vertreter haben es verstanden, den »marktkonformen« Maßnahmen noch den Schein politischer Entscheidungen zu verleihen, die Schlimmeres verhütet hätten (Mario Candeias). In diesen Weg einer »neuen Mitte« gehört der Krieg, wie die USA ihn periodisch praktizieren und wofür sie den »Teufel/Hitler/Stalin« des Tages brauchen: Ghaddafi, Saddam Hussein, Milosevic … (…)

Die Weltbank betreibt die ökonomische Destabilisierung Jugoslawiens. Die NATO betreibt nicht nur die Marginalisierung Russlands, sondern auch Chinas und Indiens. Der Autokrat ein bequemer Partner; verweigert er sich der Kompromissform des Kaziken, avanciert er zum Feind. Der »humanitäre Imperialismus« bezieht Konsensfähigkeit aus dem moralischen Impuls, kollektive Verbrechen an ganzen Bevölkerungsgruppen nicht mehr hinzunehmen. Die Massenvergewaltigungen von Frauen wurden dazu genützt, feministische Motivationen zu neutralisieren oder zur Zustimmung zum Krieg zu bewegen.

14. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Das Irreale von Realpolitik. Paradox: Wer gegen die Bombardierung ist oder auch nur ihre Unterbrechung fordert, um neue Verhandlungen zu ermöglichen, behindere die humanitären Ziele; wer bombardiert, behindert sie erst recht. Erhard Eppler entschied die SPD-Parteitagsdebatte für und wider einen Bombardierungsstopp, nachdem er den Anlass auf Gewalt von Menschen gegen Menschen überhaupt ausgeweitet hatte, von der einzelnen Vergewaltigung oder »Gewalt unterhalb der Kriegsschwelle« auf Massenexekutionen, mit dem Argument: Die Situation ist tragisch, denn was immer man tut, lässt einen schuldig werden, doch werden wir etwas weniger schuldig, wenn wir mit dem Krieg fortfahren. Minutenlanger Beifall dankte ihm, anschließend stellte jemand sofort den Antrag auf Schluss der Debatte, was eine Mehrheit fand, obwohl es noch 33 Wortmeldungen gab. Die Notwendigkeit, sagte Eppler, den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen, verbiete die Rückkehr zu politischen Lösungen. Die NATO sei jetzt gezwungen, das zu tun, was sie auf keinen Fall tun wollte. Aber letzteres gilt allenfalls für die beteiligten europäischen Regierungen und hört sich nach der Ankündigung an, man werde bald gezwungen sein, das zu tun, was man heute auf keinen Fall will: die NATO-Armee auf dem Landweg sich hineinkämpfen zu lassen.

(…)

16. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. Intonation, Stimmkörper und geballte TV- Verstärkung gaben Schröders Satz den Charakter einer Feinderklärung: Gysi und die PDS sollten »aufpassen, dass Sie nicht langsam von einer fünften Kolonne Moskaus zu einer fünften Kolonne Serbiens werden«. Das kann Anschläge auslösen. Legitimierendes Echo in hoher Lage für in den Tieflagen lauernden Hass. (…)

24. April 1999

Krieg gegen Jugoslawien. – Karl Otto Hondrich sieht Serben und Albaner mit ihrem Streben nach ihrem Nationalstaat im Einklang mit der »Entwicklungslogik einer Weltgesellschaft, die im Inneren auf stabile Nationalstaaten angewiesen ist« (»Der Westen irrt«, FAZ, 24.4.). Die NATO vergleicht er mit Don Quijote: Ihr Gegner ist gar keine Militärmacht, auch kein isolierbarer Diktator, sondern der Mehrheitskonsens auf beiden Seiten, gegen den keine Stabilisierung erreicht werden kann. Daher gibt es nur drei Möglichkeiten: Das Kosovo wird entweder rein serbisch oder rein albanisch, oder es wird in nach dem Nationenprinzip gestaltete Zonen aufgeteilt. Mit der Diskrepanz zur Legitimation der NATO-Angriffe geht er zynisch um: »Auf dem Balkan werden die Kriegsziele der NATO verfehlt. Aber welcher Krieg wäre je geführt worden, um Ziele zu erreichen? Ziele sind Vorwände. Kriege werden geführt, um zu zeigen, wer man ist«. – Der Zynismus könnte eine Form von Wiederkehr der verdrängten Selbstverleugnung des Intellektuellen sein.

30. April 1999

Jugoslawienkrieg. – (…) Auch die Kritische Theorie führt Krieg. Im Studio von Inforadio Berlin gab mir Jan Lerch vor dem Interview die neue Ausgabe der Zeit. Jürgen Habermas reduziert dort seine Kritik an der Kriegführung auf folgenden Punkt: Eine halbe Stunde vor Bombardierung des Fernsehgebäudes hätte man eine Warnung senden müssen. Ich kann diese Realsatire nicht glauben.

Wolfgang Fritz Haug: Jahrhundertwende – Werkstatt-Journal 1990–2000. Argument Verlag, Hamburg 2016, 877 Seiten, 38 Euro (auch im jW-Shop erhältlich)

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