Den Stein der Weisen abgeklopft

Der neue Band des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« diskutiert

Materie, Methodik und Metaphysik

Von Jürgen Stahl, ND, 15.11.2018

Es gilt, Marxens Begriffe und Begrifflichkeiten einzusammeln, zu verstehen und zu benützen; Graffiti in Berlin. So man in der DDR sozialisiert wurde und dort ein Studium absolvierte, begegnete einem spätestens im marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium neben der »Grundfrage der Philosophie« die »Materie«-Definition Lenins als festes, nicht infrage zu stellendes Theorem. Das 1979 erschienene Lehrbuch »Marxistisch-leninistische Philosophie« nahm die Problemstellung Materie und Bewusstsein unter dem Primat der Materie zum Ausgangspunkt für die Entfaltung des philosophischen Theoriegebäudes des »ML«. Dass das sich damit verbindende Begriffsfeld viel weiter ist, springt bei der Lektüre des neuen Bandes des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« ins Auge. Der Problemkomplex Materie, Methode und Metaphysik bildet den Kern. Und es zeigt sich, dass das, was dereinst als unbezweifelbarer Stein der Weisen erschien,  eine durchaus intensiver zu prüfende Interpretation im sich auf Marx beziehenden Denken ist. Die hier aufgewiesene Genese der einschlägigen Begriffe bietet die Möglichkeit, neue Perspektiven zu verfolgen. Und das betrifft nicht nur Lemmata, die man wohl vergeblich in anderen Wörterbüchern suchen wird, wie etwa »Materialismus, neuer feministischer« oder »materialistische Bibellektüre«, »Miete« und »Mätresse«. Was ist besonders bemerkenswert am neuen Band? Das ist einerseits die Argumentation gegen die auf dem erkenntnistheoretischen Materialismus Lenins aufsetzende Gleichsetzung von Materie und objektiver Realität, welche Materie aus dem dialektischen Gegensatz zum Bewusstsein definiert. »Die der Sache nach als primär gedachte Materie ist damit begrifflich sekundär, während das im Verhältnis zu ihr als sekundär gedachte Bewusstsein primär ist.« Der Widerspruch zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem ontologischen Sinn von Materie wird darin nicht reflektiert; es ergibt sich eine »Zwei-Sphären-Logik«. Dagegen steht die mit den Feuerbach-Thesen von Marx sich manifestierende Philosophie der Praxis, in der das Sein als ein Werden, als Verwirklichung der Einheit des Menschen und der Welt und das denkende Subjekt ebenso wie die Materie als Abstraktionen von dieser »ersten Wirklichkeit« zu begreifen sind. Wenn auf diese Weise die menschliche Praxis zum begrifflichen Ausgangspunkt avanciert, sind Konsequenzen bezüglich der dialektischen Methode herauszuarbeiten. Und so wird über die verschiedenen Stichworte der von Marx über Brecht und Mittenzwei formulierte Gedanke entfaltet, dass die untersuchte Mannigfaltigkeit die Art und Weise des methodischen Zugangs bedingt, um sich »vorbehaltlos« zur »objektiven Wirklichkeit« zu verhalten, statt ein vorgefundenes Material in ein fixes Theorieschema zu pressen. Diese Auffassung steht gegen ein auch in der DDR-Philosophie präsent gewesenes Dialektikverständnis, bei der das handelnde Subjekt in einer gleichsam unentrinnbaren Gesetzlichkeit befangen schien. Hinsichtlich der Methode manifestiert sich der Unterschied darin, ob man diese als einen »Algorithmus« oder als ein »Operieren mit Möglichkeiten«, als ein »fragendes Verfahren« (Frigga Haug) fasst, das sich dem Gegenstand in seiner Besonderheit »anzuschmiegen« vermag.

 

Das aber stand oft genug dem Erfordernis nach handlungsnotwendiger praktischer Dialektik in instabilen Situationen entgegen. Verstand sich das politische und philosophische Denken in der DDR per se als »dialektisch« und damit im Gegensatz zur metaphysischen Denkweise des »Klassenfeindes«, so entging ihm der eigene Rückfall in die metaphysische Denkweise. Konkret: wenn die Sicherheitspolitik in einem Staat alles übergreift und damit selbst zum Sicherheitsrisiko wird, indem sie die ihr eigenen zivilgesellschaftlichen Fundamente - so Antonio Gramsci - »verkümmern lässt oder sie in ihren inneren Feind verwandelt«. Die wichtigste methodologische Konsequenz liegt nach Marx deshalb im Begriff der Kritik, die auf den untersuchten Gegenstand, seine verborgenen Zusammenhänge, aber auch seine »alltäglichen«, »verkehrten« ideologischen Reflexe zu richten ist. Und so vermag uns der Marx’sche Text zur Kritik des Hegel’schen Staatsrechts - bekannt aus den »Blauen Bänden« - bezogen auf die eigene politische Verfasstheit sehr wohl zu erhellen: Die Idee des sozialistischen Staates als Staat der Werktätigen wurde in dem Maße zur leeren Form, in dem er der empirischen Wirklichkeit entgegenstand. Zumal die Mitbestimmung der Werktätigen bis hinein in die Funktionsweise der SED in vielerlei Hinsicht einen scheindemokratischen Charakter trug, auf den das Marx’sche Wort von der »sanktionierten, gesetzlichen Lüge« durchaus zutraf. Erst im Herbst 1989 traten diese Momente für einen kurzen Zeitraum in den vielfältigen Initiativen des Aufbruchs bis hin zum »Runden Tisch« wieder zusammen und machen für viele Akteure und Zeitzeugen die Faszination des Umbruchs als Erinnern an ein aktives Mitwirken aus. Metaphysik kommt eben dort zum Tragen, wo »die unbewältigte Vergangenheit und ungewisse Zukunft aktiv weggeleugnet« wird im Interesse einer vorgeblich geschichtslosen Gegenwart. Darauf macht Tillmann Reiz - Jacques Derrida aufnehmend - aufmerksam. Die gegenteilige Position des geschichtsmaterialistischen Denkens, das diesen Artikelkomplex eint, benennt damit zugleich die Aufgabe eigenen, gegenwärtigen Denkens und Handelns.

An dieser Stelle ein Wort zum eher unerwarteten Lemma »materialistische Bibellektüre«. Dieser im intellektuellen Umfeld der Achtundsechziger in Paris entstandenen Methode geht es nicht um die Wiederaufnahme einer »naturalistischen« Theologie. Der Ansatz bezieht sich vielmehr auf die Feuerbachthesen von Marx, nämlich »von den wirklich tätigen Menschen«, von der »umwälzenden Praxis« auszugehen als »konkretem epistemologischen Prinzip«. Damit wird eine neue Perspektive eröffnet: Es geht »nicht nur um eine Rekon-struktion der gesellschaftlichreligiösen Wirklichkeit, aus der die biblischen Texte hervorgehen, sondern auch um eine Analyse, wie diese Texte Partei ergreifen gegen die tödlichen Strukturen von Unterdrückung und Entfremdung« - etwa wie der Hunger in der Bibel zur gesellschaftlichen Sprengkraft wird. Einmal mehr kann man hier die Funktion des Wörterbuchs erfahren, einen erreichten Erkenntnisstand sowohl aufbewahrend zur Weiterung des eigenen Gesichtskreises zu präsentieren, als auch Anregung zum Weiterdenken zu geben. Was in diesem Band weiter auffällt, ist das Heranziehen von Brecht! Mir ist nicht erinnerlich, dass dieser in der philosophischen Theoriebildung in der DDR eine Rolle gespielt hätte; er war dort abwesend. Die Erörterung seiner Texte überließ man den Germanisten. Liest man nun die  vielfältigen Einträge, in denen Brecht’sche Auffassungen im Wörterbuch mit verhandelt werden, so darf man ihn getrost als einen der bedeutendsten, sich auf Marx beziehenden Denker des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Auch das herauszuarbeiten, kann als ein Vorzug des »Historischkritischen Wörterbuchs des Marxismus« gelten. Dergestalt erweist sich auch dieser Band wie dessen Vorgänger als ein Wegweiser für das sich selbst immer In-Frage-Stellen, sich dabei zugleich verwickelt wissend mit den vielfältigen, ungesättigten Bedenken von Marx und dessen Nachfolger. Scheinbare Gewissheiten lösen sich auf, um neue Gemeinsamkeiten zu werden.^

 

Wolfgang F. Haug/ Frigga Haug/ Wolfgang Küttler u. a. (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 9/1. Maschinerie bis Mitbestimmung. Argument-Verlag, 1079 S., geb., 108 €.