Ruedi Graf

Neu zu entdecken: Antonio Labriolas Gründungsbeitrag zur marxistischen Philosophie

Antonio Labriola: Drei Versuche  zur materialistischen Geschichtsauffassung. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Dietz Berlin 2018.

 

Die drei Aufsätze Labriolas, zwischen 1895 und 1899 erstmals in italienischer und französischer Sprache publiziert, erschienen integral in deutscher Sprache erst 1974, nachdem Franz Mehring 1909 den ersten unter dem  Titel „Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifests“ veröffentlicht hatte und Karl Korschs Vorschlag einer Übersetzung der beiden andern Aufsätze Ende der Zwanziger Jahre auf kein Gehör gestossen war. Labriola, der sich im Briefwechsel mit Engels vom Schüler zum eigenständig denkenden Partner entwickelt, schreibt seine Essays in die beginnende Krise des Marxismus nach dem Tod Engels‘ hinein. Sie erweisen sich zugleich als Sensoren dieser Krise wie mindestens theoretisch als deren praxisphilosophische Überwindung jenseits von Bernsteinschem Revisionismus und Kautskyscher Orthodoxie. Kautsky hatte für die Vorschläge Labriolas kein Gehör, wie Haug in seiner Einleitung aus Labriolas Briefwechsel mit Kautsky nachweist (S. XXXIII); von Bernstein, dessen Kritik an der Diskrepanz von Theorie und Praxis er teilt, aber „nach vorne“ lösen will, wird er links liegen gelassen.

Das erklärt zum Teil, weshalb Labriola im deutschen Sprachraum lange auf keinen Widerhall gestossen ist. Der andere Teil der Erklärung liegt darin, dass Plechanows Schrift „Über die materialistische Geschichtsauffassung“, die auf die ersten beiden Essays von Labriola antwortet, die vor allem im dritten Aufsatz, den „Unterhaltungen über Sozialismus und Philosophie“, explizierte praxisphilosophische Wendung nicht mitmacht. Es ist nach Haug die zweite Tragödie Labriolas, dass mit der Hegemonie des russischen Marxismus, der auf Plechanow fusst, Geschichte „zum apriorischen Schema“ zurechtgemacht, „Dialektik in eine neue Metaphysik verwandelt“ und diese „zuletzt der staatsideologischen Funktion“ untergeordnet wird (S. XXV).

Daraus wird nun auch das besondere Interesse dieser zweiten deutschen Ausgabe der „Drei Versuche“ deutlich. Während es der ersten deutschen Ausgabe von Pozzoli vor allem darum ging, Labriola als „Bewusstsein der Schwierigkeiten dieser Bewegung“ (gemeint ist die italienische Arbeiterbewegung) zu präsentieren (S. 38), geht es der Ausgabe von Haug  darum, die „drei ‚Versuche‘ als marxistische Gründungstexte zu entdecken und ihren Verfasser als einen Mitgründer des Marxismus“ (S. VIII). Dessen besondere Leistung sieht Haug etwa darin, dass er mit Vico auf der Unterscheidung von Natur- und Geschichtserkenntnis und gegen Engels‘ Tendenz, die Philosophie auf allgemeine Denkgesetze zu reduzieren und Natur und Geschichtsentwicklung in diesem Lichte gleichzusetzen, auf der Besonderheit geschichtlicher Erkenntnis beharrt. Gegen die Vertreibung der Philosophie aus Natur und Geschichte rettet er deren Bedeutung als dialektische Denkweise (S. XIII). Mit ihr würden die Dinge nicht aufgefasst, „wie sie sind“, als „Faktum, feste Gattung, Kategorie usw.“, „sondern sofern sie werden“ (S. XIII, zit. nach Labriolas Briefwechsel). Daher lobe er Marxens Vorgehen im Kapital als vorbildlich, weil er die Kritik als „Selbstkritik der Sache selbst“ (S. XIV, vgl. Labriola S. 127) herausarbeite. Insbesondere aber entdecke Labriola mit den Feuerbach-Thesen, die ihm Engels mit seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie“ zusendet, „den Quelltext einer strukturell neuartigen Philosophie“ (S. XII). Aus ihnen destilliere er, vor allem im vierten Brief an Sorel, eine Philosophie der Praxis als „Mark des historischen Materialismus“ (S. XIX).

Haug erkennt in diesen Kerngedanken eine Vorläuferrolle Labriolas zu Gramsci. Er folgt darin Alberto Burgio, der mit der noch immer hegemonialen Legende aufgeräumt habe, Labriola und Gramsci gehörten „zwei verschiedene[n] Universi, zwei unvereinbare[n] Theorien“ an (Biagio de Giovanni 1983, S. 21; vgl. auch Luporini 1973, S. 1587f.). Darüber hinaus hält er Labriola insofern für aktuell, als der italienische Philosoph in der ersten Krise des Marxismus „die Erfahrung mit der Abwendung vom Marxismus festgehalten“ (S. XXXIV) und gleichwohl bewiesen hat, dass man „auch heutzutage Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung sein kann, nachdem man den neuen sozialgeschichtlichen  Erfahrungen das schuldige Zugeständnis gemacht und die Begriffe, die durch die natürliche Entwicklung des Denkens eine Umgestaltung erfahren haben oder erfahren, der notwendigen Durchsicht unterzogen hat“ (S.  XXXV). In gewissem Sinn lässt sich dieser Satz Labriolas aus „Zur Krise des Marxismus“ (dort S. 71) auch als methodisches Programm für das „Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus“ lesen, und in der Tat stellt Haug fest, „dass Labriola dort zwar nicht so oft wie Gramsci, doch so gut wie ausnahmslos in Fragen und auf eine Weise zu Wort kommt, die ihn in der Herangehensweise richtungsgebend zeigen“ (S. XXXV). Die Probe aufs Exempel kann machen, wer etwa im HKWM Artikel wie „Krise des Marxismus“,  „Leitfaden“,  „Metaphysik“, „Methode“, „historische Materialität“ oder „praktisch-dialektischer Materialismus“ etc. nachschlägt.

Darüber hinaus lässt sich fragen, was die drei Essays von Labriola zur heutigen Marxismusdiskussion beitragen. Für den ersten Essay, „Im Gedenken an das Manifest der Kommunisten“, ist bemerkenswert, wie Labriola mit sicherem Auge das Zeitbedingte, Konjunkturelle vom Prinzipiellen und Weiterwirkenden, das für die Kommenden immer noch Auftrag ist, unterscheiden kann. So sieht er den „Nerv“ des  Manifests weder in den Massregeln, „die am Schlusse des zweiten Kapitels  angeraten und vorgeschlagen werden“ (S. 41), noch darin, „was es über andere Formen des Sozialismus sagt“ (S. 42 ), sondern „ganz in der neuen Geschichtsauffassung“ (S. 44), für die es nichts anderes sei „als der erste Leitfaden einer Wissenschaft und einer Praxis, welche die Erfahrung und die Jahre allein entwickeln konnten.“ (S. 66). Im zweiten Aufsatz „Vom historischen Materialismus“ sieht er die Bedeutung des Manifests zusammenfassend darin, „zu zeigen, wie die materialistische Geschichtsauffassung unter ganz bestimmten Bedingungen entstanden ist, nicht etwa als persönliche und fragwürdige Ansicht zweier Schriftsteller, sondern als eine neue Errungenschaft des Geistes aufgrund der unausweichlichen, suggestiven Wirkung einer neuen Welt, die sich bereits herausbildet, nämlich die proletarische Revolution (…). Es läuft darauf hinaus, dass eine neue historische Situation sich durch das ihr entsprechende geistige Werkzeug vervollständigt hat.“ (S. 120f.)

Dieses geistige Werkzeug, von Labriola versuchsweise „historischer Materialismus“ und „kritischer Kommunismus“, dann „Philosophie der Praxis“ genannt, arbeitet er im zweiten Essay genauer aus. Seine Auffassung von Geschichtsmaterialismus entwickelt er gegen die damals gängigen Auffassungen von „historischem Materialismus“. In ihm bilden Geschichte und das sich herausbildende Bewusstsein darüber eine Einheit. „Daraus, dass die Geschichte als Ganzheit  aufgefasst werden muss und dass in ihr Kern und Schale einen Einheit bilden“, leitet Labriola drei Konsequenzen ab: Erstens tritt „die Vermittlung zwischen Ursache und Wirkung, Bedingung und Bedingtem, Präzedenzien und Folge nie auf den ersten Blick offen zu Tage“ (S. 93). Bei der Untersuchung der Bedingungen eines Phänomens müsse nicht nur sichergestellt werden, „dass sie tatsächlich die Ursachen sind, sondern auch, über welche Vermittlung  sie zu jener Form kommen, in der sie sich dem Bewusstsein als Motivationen – mit oftmals verwischtem Ursprung – vorstellen.“  (S. 94) Zweitens gehe es nicht darum, „alle komplizierten Erscheinungsformen der Geschichte wiederum auf ökonomische  Kategorien zu bringen, sondern nur darum, jedes historische Ereignis in letzter Instanz (Engels) mittels der zugrundeliegenden ökonomischen Struktur (Marx) zu erklären“ (S. 94). Daraus ergibt sich drittens, wie Labriola vorsichtig formuliert, „dass man, um von der zugrunde liegenden Struktur zur Gesamtkonfiguration einer bestimmten Geschichte vorzustossen, die Unterstützung jenes Apparates von Begriffen und Kenntnissen braucht, den man mangels einer andern Bezeichnung Sozialpsychologie nennen kann.“ (S. 94) Labriola stellt sich damit nicht nur gegen einen historischen Materialismus, wie ihn in Italien etwa ein Achille Loria vertreten hat (vgl. auch S. 180f.), den Gramsci später in seinen Notizen zum Lorianismus verspotten wird. Er wendet sich ebenso gegen eine Auflösung der Bedingungsverhältnisse in positivistisch zurechenbare „Faktoren“ wie gegen die Gleichsetzung von Darwinismus und materialistischer Geschichtsauffassung, indem er auf Vicos Unterscheidung zwischen Naturgeschichte und menschlicher Geschichte beharrt und mit Vicos Begriff der künstlichen Welt gegen eine Naturalisierung der Menschheitsgeschichte ankämpft. Er leuchtet damit bereits genauer aus, was Engels ungefähr zur gleichen Zeit als Determination „in letzter Instanz“ bezeichnet hat.

Man findet in Labriolas Aufsätzen einige Stellen, an denen er auf der methodologischen Grundlage von Marx weiter geht als Engels mit seiner etwas vagen Formulierung, die vielen Marxisten immer wieder als doch recht ohnmächtiges Zauberwort erschienen ist, um den Vorwurf eines simplen ökonomischen Determinismus von sich zu weisen. Das ist etwa an jener Stelle der Fall, wo er gegen das Missverständnis einer ökonomischen Faktorentheorie von der „zugrundeliegende(n) Struktur, die alles Übrige determiniert“, sagt, sie sei „kein einfacher Automat, der auf einfache und unmittelbare mechanische Weise Institutionen, Gesetze, Sitten, Gebräuche, Gedanken, Gefühle und Ideologien auswirft.“ (S. 117)  Vielmehr sei der Prozess dieser Vermittlungen „oft subtil und verschlungen und nicht immer zu entschlüsseln“, was Labriola in harten Gegensatz zum späteren Marxismus-Leninismus bringt. Dieser Gegensatz kommt auch dort zum Ausdruck, wo er von der marxschen Entdeckung sagt, sie sei „lediglich eine Methode der Forschung und der Auffassung der Dinge“, ein „Leitfaden“ und keine „intellektuelle Vision eines grossen Planes oder  Entwurfes“ (S. 107f.). Labriola geht noch weiter, indem er sich bewusst ist, dass die Sprache als Erkenntnisinstrument „immer im Keim den Mythos in sich trägt“, aus „Beziehungen“ „Dinge“ und  diese zu „handelnden Subjekten“ macht (S. 212). Gegen das Wiederauftauchen des metaphysischen Denkens auch in der Arbeiterbewegung ist ständige Sprachkritik gefordert.

Er differenziert dann, dass „die Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft, d.h. die Produktionsform der für das Leben unmittelbar notwendigen Mittel“, „die ganze übrige praktische Tätigkeit der Mitglieder der Gesellschaft“ auf zwei Weisen determiniere: auf direktem Weg „die praktische Tätigkeit“ und die „regulierenden Beziehungen wie Recht und Moral“; „auf indirektem Weg die Gegenstände der Vorstellungswelt und des Geistes in der Erzeugung von Kunst, Religion und Wissenschaft.“ (S. 145) Das ist nicht im Sinne einer Hierarchisierung der Determinierungen zu verstehen noch in dem einer Trennung von geistigem und praktischem Leben. Zunächst ist diese Absonderung von Bereichen für Labriola Ursache der Illusion, wonach „verschiedene, voneinander unabhängige Faktoren mit eigener Wirkungskraft und eigenem Bewegungsrhythmus zum Zustandekommen der geschichtlichen Entwicklung und der in der Folge jeweils daraus resultierenden gesellschaftlichen Konfigurationen“ (S. 145) beitragen. Labriolas Lösung liegt nicht darin, diese Bereiche aus der ökonomischen Struktur abzuleiten, was eine Form der Denkfaulheit sei, „alle Probleme der Ethik, der Ästhetik, der Philologie, der Geschichtskritik und der Philosophie auf ein einziges Problem“ (S. 147) zurückzuführen; es gehe auch nicht darum, „die Geschichte durch die Soziologie zu ersetzen, als ob die Geschichte nur eine äussere Erscheinung gewesen sei, die hinter sich eine geheime Wirklichkeit verberge“; es gehe „vielmehr darum, die Geschichte lückenlos in allen ihren  intuitiven Äusserungen zu begreifen.“ (S. 160) Es geht hier sowohl um die Kritik an der Wesen-Erscheinung-Dialektik wie an der Vorstellung, die geschichtlichen Menschen seien gewissermassen nur die Puppen eines geheimen Mechanismus.

An anderer Stelle bringt er die Forderung nach einer integralen Geschichtsschreibung mit der Einheit von Denken und Handeln zusammen. Für ihn gilt zwar Marxens Satz, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern umgekehrt das Sein das Bewusstsein bestimmt, aber die Formen des Bewusstseins von den Lebensbedingungen sind ihrerseits Teil der Geschichte: „Geschichte ist nicht allein ökonomische Anatomie, sondern alles das gemeinsam, was diese Anatomie umhüllt und bedeckt, bis hin zu den vielfarbigen Reflexen der Fantasie. Anders gesagt, es gibt kein historisches Ereignis, das nicht aus den Bedingungen der zugrunde liegenden ökonomischen Struktur herrührt; aber es gibt auch kein historisches Ereignis, dem nicht bestimmte Formen des Bewusstsein vorausgingen, es begleiten und ihm folgen würden, ob diese nun abergläubisch oder erfahren, naiv oder reflektiert, reif oder unangemessen, impulsiv oder beherrscht, nebelhaft oder überlegend seien.“ (S. 95)

Damit überwindet Labriola nicht nur den Gegensatz von Strukturgeschichte und Geschichte der grossen historischen Persönlichkeiten, sondern zugleich den Eklektizismus der Empiriker. Methodisch basiert diese integrale Geschichtsschreibung auf der marxschen Überwindung des Gegensatzes von Denken und Handeln, Idealismus und Materialismus, die zu einer Auffassung der absoluten Immanenz der Geschichte führt. In den „Unterhaltungen“ erweitert er, am Leitfaden der anti-objektivistischen marxschen Feuerbachthesen, den Gedanken, dass auch das Denken ein Tun sei, zur Philosophie der Praxis. Im Experimentieren, d.h. im Tun „hören die Dinge für uns auf, einfach starre Objekte der Anschauung zu sein“ (S. 209). Im Aufsatz zum Historischen Materialismus findet dies einen Vorläufer in seiner Auffassung von Moral, worunter er nicht die „religiösen und philosophischen Systeme und Katechismen“ versteht, sondern „jene Moral, die ganz prosaisch und so empirisch wie offensichtlich in den Neigungen, in den Sitten und Gebräuchen, in den Ratschlägen, Urteilen und Wertungen der gewöhnlichen Sterblichen  vorhanden ist.“ (S. 147) Als moralisches Bewusstsein ist diese Moral etwas, „das wirklich existiert, […] etwas Empirisches“ (S. 148).  In dieser Auffassung von Moral ist einerseits unschwer etwas von Gramscis Alltagsverstand zu erkennen, andererseits interpretiert er sie praxisphilosophisch, indem er sie als ein Tun auffasst.

Überhaupt entdeckt man vor allem in den beiden letzten Essays immer wieder Gedanken, die an Gramsci erinnern, d.h. auf diesen vorausdeuten – sowohl methodisch wie auf der konkreten Ebene der praktischen Untersuchung. Burgio hat etwa darauf hingewiesen, dass Gramsci dort, wo er Marx im Lichte der Feuerbachthesen praxisphilosophisch versteht, auch auf Labriola fusst. Das ist etwa bei der Überwindung des Dualismus von Idealismus und Materialismus der Fall, der Immanenz des geschichtlichen Prozesses und der Auffassung der Kritik als einer „Selbstkritik, die in den Sachen selbst liegt“ (127), ebenso aber in der Auffassung der Autonomie der Marxschen Theorie wie ihres Status als Voraussetzung einer neuen Praxis und einer neuen Zivilisation. Allerdings ist Labriolas Vorläuferschaft in dem Sinne zu verstehen, dass er zur Hegemonietheorie Gramscis hinführt, nicht aber, dass sie schon in Labriola enthalten ist. So findet man etwa an der Stelle, wo er die Moral als wirkende Macht in Gegensatz zu den dogmatischen Moralsystemen der Philosophen setzt, keinen Hinweis auf das Verhältnis von Hochkultur und Volkskultur, auch nichts zur kritischen Umarbeitung des Alltagsverstandes in der Perspektive der Überwindung von Subalternität, obwohl dies in den praxisphilosophischen Grundlagen angelegt ist.

Interessant ist, dass Labriola in seinen Überlegungen zu Moral, Religion und Gefühlsleben auch auf das antagonistische Begriffspaar Optimismus und Pessimismus zu sprechen kommt (S. 234ff.). Er sieht dieses als eine Verallgemeinerung von „Emotionen, die aus einer bestimmten Erfahrung oder gesellschaftlichen Situation resultieren“ (S. 234). Insofern die beiden Begriffe ihre Bedeutung „über den Bereich unseres unmittelbaren Lebens hinaus ausdehnen“ und „zur Achse, zum Brennpunkt und zur Finalität des Universums werden“ (ebd.), fallen sie nach Labriola in Metaphysik zurück und verbinden sich mit religiösen Systemen. Im historischen Materialismus, „als Philosophie des Lebens und nicht dessen ideologischer Erscheinungen“, werde deren Gegensatz überschritten, „denn er hebt deren Begriffe auf, indem er sie als das begreift, was sie wirklich sind.“ (S. 236). An die Stelle eines „Fantasierens und Träumens mit offenen Augen“ – so überschreibt etwa Gramsci seinen zentralen Paragrafen über Optimismus und Pessimismus (GH 9, §60) – tritt bei Labriola als Forderung Im Sinne der Immanenz-Idee das „nüchterne Studium der Dinge“. Angelegt, aber nicht ausgeführt ist darin die Idee Gramscis, dass der Optimismus  in praxisphilosophischer Hinsicht nichts anderes als eine Form der Passivität und des Fatalismus ist (vgl. GH 9, §130) und in der Arbeiterbewegung  als „ideologisches Aroma“ der Philosophie der Praxis, als „Religion der Subalternen“ auftritt (vgl. GH 11, §12). Gramsci verbindet denn auch den Pessimismus mit dem Verstand, als Erkenntnis der Mühsal des Kampfes, den Optimismus mit dem Willen, als Voraussetzung zur verändernden Praxis.

In Labriolas eingestreuten modellhaften Skizzen zu einer geschichtsmaterialistischen Analyse erscheint hinwiederum vieles von dem vorweggenommen, was Gramsci später in den Gefängnisheften entwickelt. Zum einen erkennt er, wahrscheinlich in der Nachfolge von Engels‘ Schrift zum Bauernkrieg, den popularen Charakter der Reformation und setzt sie gegen die Renaissance als einer Reformbewegung ab, die nicht popular geworden ist. Ebenfalls ein wiederkehrendes gramscisches Thema ist der Niedergang Italiens im 16. Jahrhundert, das, „während es verfällt, […] dem übrigen Europa seine geistigen Waffen“ (S. 166) vermittelt. In diesem Zusammenhang nimmt er eine These Braudels voraus, wenn er erkennt, dass der Niedergang Italiens auch etwas mit der Verschiebung des Wirtschaftszentrums vom Mittelmeer an den Atlantik zu tun hat.

In seinen drei Essays erweist sich Labriola als solider marxistischer Methodiker, der in der ersten Krise des Marxismus einen Weg zwischen marxistischer Orthodoxie und Eklektizismus aufgezeigt hat, der lange unbeachtet blieb.  Sein marxistischer Lernprozess, in den unter anderem ein Vico-Studium, der neapolitanische Hegelianismus und die theologische Tübinger Schule eingehen, erfährt durch die Begegnung mit den Feuerbach-Thesen eine entscheidende Wende. Damit wird der Historische Materialismus zur „Philosophie der Praxis“, die den Marxismus zu einer gegenüber allen anderen Philosophien eigenständigen Weltauffassung macht. Nach dem Bankrott der marxistischen Orthodoxien, dem Scheitern reformistischer Akkommodation und der Leerheit postmoderner Beliebigkeiten erweist sich Labriolas praxisphilosophische Wiederaufnahme immer noch voller Zukunft, die uns auffordert, sie endlich in der Gegenwart ankommen zu lassen. Dazu müsste man auch Labriolas Auseinandersetzung mit Bernstein, seine Schrift „Zur Krise des Marxismus“, die sich mit Masaryk auseinandersetzt, und vor allem sein Vorlesungsskript von 1902/03 über „Geschichte, Geschichtsphilosophie, Soziologie und historischer Materialismus“ sowie sein Fragment gebliebenes Manuskript „Da un secolo all’altro. Considerazioni retrospettive e presagi“ (Von einem Jahrhundert zum andern. Zurückschauende Überlegungen und Vorahnungen; vgl. dazu Haug über >Labriolas Ausblick aufs 20. Jahrhundert<, XXVIII-XXXII) beiziehen. Die beiden letzteren harren immer noch einer deutschen Übersetzung.

Ruedi Graf

 

Literatur:

·         Burgio, Alberto: Über die Beziehung von Gramsci zu Labriola. In: Das Argument 326, H. 2, 2018, S. 196-213.

·         De Giovanni, Biagio: Sulle vie di Marx filosofo in Italia. Spunti provvisori. In : Il Centauro 9, 1983.

·         Labriola Antonio : Zur Krise des Marxismus. In: Neue Zeit 3, 1899/1900, S. 68-80.

·         Labriola, Antonio: Da un secolo all’ altro. Considerazioni retrospettive e presagi. In: Ders.: Saggi sul Mateialismo storico, hg. von Valentino Gerratana und Augusto Guerra, Rom 1977, S. 341-372.

·         Luporini, Cesare: Il marxismo e la cultura italiana del Novecento. In : Storia d’Italia, Bd. V.I. Documenti. Turin 1973, S. 1587-1589.