Heinrich Taut

25. Februar 1907 — 14. September 1995

Am 14. September 1995 starb Heinrich Taut mit 88 Jahren. Seit 1992 wirkte er mit in der Werkstatt für ein Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Er war schwierig für uns; wir waren schwierig für ihn; wir liebten ihn; wir vermissen ihn. In unserer Werkstatt quälte er sich, noch mehr aber lebte er auf. Oft saß er da wie unter Überdruck. Man meinte ihm anzusehen, wie der Druck der ungeäußerten Reflexionen, der unerzählten Geschichten in ihm wuchs. Die Texte der Jüngeren, insbesondere derjenigen, die aus der DDR kamen, waren ihm oft zu weich, zu resigniert, gaben zu vieles preis.

Er schrieb riesige Entwürfe zu Bedürfnis, Bewusstheit, Freiheit. Er schleppte große Textmengen an, zunächst unscheinbar verkleidet als Anfragen in Briefen, aber der schließlich abgegebene Text war ebenso, mit Streichungen, Pfeilen, die einzelne Sätze, Worte, ganze Absätze woanders hin verwiesen. Das alles erweckte schon äußerlich den Eindruck, als sei zuviel da, das nicht in Form gebracht werden konnte. Heinrichs Artikel waren aus dem Zustand aus allen Nähten quellender Rohfassungen nur mit Hilfe jener Kraft zum Druck zu befördern, die den Namen Liebe trägt.

Als wir die Veröffentlichung von Band 1 feierten, war der Abend geprägt durch seine Erzählungen. Sie kamen aus einer für uns kaum mehr vorstellbaren Welt. Mit Staunen und Lachen vernahmen wir: wie er 1928 beim Studium in Heidelberg sich »stürmisch« zum Marxismus hingezogen fühlte; sehr zum Entsetzen seines berühmten Vaters, des Architekten Bruno Taut, der ihm zur Heilung ein Semester in England spendierte, was aber zur Folge hatte, dass Heinrich 1929, im Londoner Indian House, die Imperialismustheorie kennenlernte; wie er dann 1931, mit 24, nach gründlicher Lektüre von Lenin – vor allem der Schrift Was tun? – und Trotzki, auf eigene Faust, nur mit einer Empfehlung von Ernst Mey, ins gefährliche Russland aufbrach, um, wie er im Argument schrieb, »eine angelesene Theorie zu verifizieren oder falsifizieren«; wie er 1933, als der konservative Herrenklüngel Hitler an die Macht gebracht hatte und Heinrich mitten in der Vorbereitung zu seiner Dissertation über den Ursprung der puritanisch-revolutionären Idee im elisabethanischen England steckte, seinen Namen auf der Liste der 497 wegen antinationaler Gesinnung Relegierten fand; wie er nach Basel ging, wo er 1934 bei Edgar Salin mit dieser Arbeit promovierte; wie er im NS-Staat in derjenigen Branche unterschlüpfte, die eines der für seine Lebensweise besonders unentbehrlichen Produktionsmittel vertrieb: die Schreibmaschine; und wie er, als sich die uniformierte Existenz nicht länger umgehen ließ, sich an diesem Gerät festzuhalten vermochte und in die Schreibstube kam; wie er 1945, nun doch an die Front kommandiert, bei Mettendorf die Gefangennahme seiner selbst und seiner Einheit durch die Amerikaner angeführt hat. Heinrich Taut hat das aufgeschrieben für das Argument-Heft anlässlich des 50. Jahrestages der Kapitulation Nazi-Deutschlands. Eine Anekdote aus dem Leben eines marxistischen Simplizissimus, die es wert wäre, von einem unserer Schriftsteller erzählt zu werden.

Ja, und Stationen aus seinem Leben in der DDR: wie er als Westkriegsgefangener 1951 aus der Partei ausgeschlossen wurde; wie 1956, nach dem 20. Parteitag und der Verurteilung der Stalinschen Verbrechen durch Chruschtschow, der Ausschluss aufgehoben wurde; wie aber die Tatsache, dass er, der im kommunistischen Widerstand Aktive, wie durch ein Wunder immer wieder davongekommen war, ihn dem Verratsverdacht ausgesetzt hat. Und er erzählte von seinem Vater, der sich als Antivater verhielt und dem fünfzehnjährigen mitteilte: »Ich habe gar kein Papagefühl; also >meine< Kinder können bestenfalls meine Freunde sein. Das hängt von ihnen und von mir ab, d.h. es beruht auf Gegenseitigkeit. [...] Helfen kann Dir niemand... Die einzige Hilfe liegt bei Dir Es ist, als hätte die Situation des Sohnes, der keiner sein durfte, ihn zum ewigen Jüngling gemacht.

Er verband Fröhlichkeit und Züge eines Eulenspiegel mit einem Eigensinn, der an Sturheit grenzen konnte. Er war tolerant, konnte mit Gegnern reden, und konnte streitlustig bis streitsüchtig mit Freunden sein. Er hatte Zivilcourage und hielt die Staatssicherheit für eine notwendige Form der Parteiarbeit. Er hatte es gern, wenn ihre Vertreter ihn aushorchten: sie hörten ihm wenigstens zu. Obwohl er dem Projekt DDR immer treu geblieben ist, war er immer ein Außenseiter in der DDR.

Zu seinen Widersprüchen gehört, dass er, der voller Widersprüche war, ein Leben wie aus einem Guss geführt hat, ebenso lustfähig in der Tätigkeit wie tätig in der Lust. Vielleicht ist es das, was ihn befähigte, im Unterschied zu vielen seiner Genossen, die jünger sind als er, sich nicht in irgendeiner Ecke niederzulassen und aufzuhören.

Der Satz, den er an uns ebenso wie an sich selbst zu richten schien und den er oftmals wiederholte, hieß: »Wir machen weiter Das hieß bei ihm nicht, weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre. Das Weiterzugebende musste zuvor neu durchgearbeitet werden. Die Weltänderer mussten sich selbst ändern.

Der Umbruch von 1989/90, der alle Hoffnungen zurückzunehmen schien, die sich an die Revolution von 1917 geheftet hatten, der das entsetzliche Urteil alles umsonst über die opferreichen Kämpfe dieses Jahrhunderts zu verhängen schien, bildete die letzte große Herausforderung an Heinrich Taut, dessen ganzes Wesen sich dagegen sträubte, diese Geschichte vom Standpunkt der Sieger zu betrachten.

Doppelten Widerstand: gegen den Sog der Niederlage wie gegen die Versuchung zur nostalgischen Verstocktheit – das war es wohl, was ihm das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus und unsere Zusammenarbeit bedeutete.

Auf dem Sterbelager erklärte er, noch für zwanzig Jahre Ideen zu haben. Er konnte sich nur einen Todesgrund vorstellen, mit dem er sich abfinden würde: »Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, möchte ich nicht mehr leben

Halb Torso, halb Steinbruch – die angefangene Arbeit, über der er verstarb, ist der Artikel Freiheit. Nach seinem Tode fanden sich auf seinem Schreibtisch Stapel aufgeschlagener Bücher mit Anstreichungen: das MEW-Register beim Stichwort Freiheit, Aufsätze und Bücher über Freiheit, Werke über Stalinismus, über die Perestrojka, ein Buch über den Aufstand der Zapatisten und Gorbatschows Erinnerungen. An den vielen, vielen Markierungen mit gelbem Leuchtstift sah man, dass sie durchgearbeitet waren.

Wolfgang Fritz Haug