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"Warum wir aus Berlin weggezogen sind"

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Wann immer wir Leute treffen, hören wir früher oder später unvermeidlich die Frage: "Warum zieht ihr von Berlin weg?" Wir hören sie in allen Tonlagen. Immer gibt der Ton zu verstehen, man sei fassungslos: "Wie konntet ihr nur von Berlin wegziehen?" Manchmal probiere ich es mit der Retourkutsche: ... "Weil wir, nachdem wir den Weggang angekündigt hatten, in vier Wochen mehr Freundesbesuche erhalten hatten als in den vier Jahren davor." Irgendwie scheint diese Antwort keinen zufrieden zu stellen. Manchmal wird ein Geheimnis dahinter vermutet. "Ihr müsst nicht antworten, wenn ihr nicht darüber sprechen wollt, aber ich wollte euch schon die ganze Zeit fragen: Warum bloß ... usw."

Als ich, gleich nach Ankunft in der neu-alten Heimat, bei einer von Stuttgarter Sozialisten organisierten Tagung auftauchte, sozusagen mein Debut als Remigrant gebend, nahm mich der greise Theodor Bergmann, zu dessen Ehren die Konferenz abgehalten wurde, in der Pause zur Seite und fragte, halb verschwörerisch, halb vorwurfsvoll: "Eines kann ich nicht verstehen. Warum seid ihr bloß von Berlin weggezogen?"

Da wusste ich, es gibt kein Entkommen vor dieser Frage.

Die schlichte Antwort scheint keinen zu befriedigen. Lauter Zufälle hakten ineinander. Sie alle aufzuzählen, würde zu weit führen. Hier nur so viel: Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich das Haus geerbt, in dem ich aufgewachsen bin. Die Mieter verlangten, es müsse renoviert und ein Balkon angebaut werden. Wir taten es brav, es kostete ein kleines Vermögen. Dann kamen zwei ganz unterschiedliche Ereignisse zusammen: In den Todesschreck von Friggas Krebsoperation, nach der die Ärzte keinen Rat zur Lebensweise so energisch wiederholten wie den, regelmäßig spazierenzugehen, platzte die Kündigung der Mieter, die uns in den Umbau hineingeredet hatten. Es gab allerlei Ärger. Wir wollten die nicht sein, die wir hätten sein müssen, um als Vermieter zu bestehen. Da beschlossen wir, der Spaziergänge auf der schwäbischen Alb, dem Schurwald, in den Weinbergen der näheren Umgebung eingedenk, den Trollinger, die Brezeln, die Maultaschen erwägend, selbst einzuziehen.

Denen, die bei der Nennung von Argumenten wie Trollinger, Brezeln, Maultaschen lächeln, sei versichert - und meine Freunde werden es gern bestätigen -, dass das kein Witz sein sollte und, wenn, dann der Witz der Sache selbst. Berlin ist zwar in Gestalt der "Berliner" in der Welt der Esswaren ein Begriff, wie Hamburg in Gestalt der "Hamburger", aber so wenig wie diese habe ich jenes süß-klebrige Fettgebäck, in das Marmelade eingespritzt wird, je vertragen, und man komme mir nicht mit Eisbein und Berliner Weiße mit oder ohne Schuss. Nein, die Berliner Küche sollte man lieber mit Schweigen übergehen. Kundige werden wissen, dass in Berlin, wo die Hohenzollern aus Misstrauen gegen die Bewohner nicht zu knapp Garnisonen angelegt hatten, die Mietskaserne erfunden -- vielleicht auch nur nacherfunden - worden ist. Die dazugehörige Schöpfung - ich glaube, ich habe das aus Hegemanns Steinernem Berlin - ist das Kommissbrot. Wie oft habe ich seit jenem November 1956, als ich aus dem Lande der Baguettes ins noch ungeteilte Berlin gezogen kam, den Kopf darüber geschüttelt, was die Berliner als Brot akzeptieren. Wenn Jesus sich mit seinen Jüngern statt im Garten Gethzemane im Tiergarten versammelt hätte, könnte der Evangelist nicht berichten, dass Jesus das Brot "brach". Der Berliner Jesus hätte an dem Brot wie an einem Expander herumgezerrt und es schwitzend auseinandergerissen.

Und doch hat mich nie jemand, schon gar nicht fassungslos, gefragt: Wieso bist du ausgerechnet nach Berlin gezogen? Offenbar kommt dem Selbstbewusstsein der Bewohner Berlins eine solche Frage nicht in den Sinn. Ich muss mich schon selbst fragen, wieso ich 1956 nach Berlin gezogen bin?

Da stolpern gleich zwei Antworten übereinander. Dass ich mich zufällig für Berlin entschied, hat mit der Gallensekretion des Hundes und mit gewissen Drüsenausscheidungen in meinem eigenen Adam zu tun. Ich war neunzehn und lebte im südfranzösischen Montpellier, wo ich das Straßencafé am "Oeuf" unsicher machte, indem ich die andern Klienten oder Passanten mit ihren Kindern und Hunden in mein Skizzenbuch zu bannen versuchte, wenn ich nicht gerade spätimpressionistische Sonette schrieb. Denn die bildende und die schreibende Kunst hatten es mir angetan. Es war mir sogar gelungen, an der Ecole de Beaux Arts Aufnahme zu finden. Der Besitzer der Bar "Zur Oase" am nahegelegenen Badestrand, der gesehen hatte, wie ich dort meine Staffelei aufbaute, um einen roten Baumstrunk zu malen, den die See angeschwemmt hatte und der aussah wie ein Urreptil, spendierte mir sogar ein Abendessen in der Annahme, ich würde ihm ein paar Palmen an die Wand pinseln.

Doch meinen Lebensunterhalt - zumindest einen Teil desselben -verdiente ich mit Übersetzungen aus dem Deutschen, die ich für einen Medizinstudenten anfertigte. Es waren Forschungsberichte über die Gallensekretion des Hundes, La sécrétion biléaire du chien. Nachdem man eine solche Kreatur festgeschnallt hatte, operierte man ihr einen Schlauch ein, der die Gallenflüssigkeit in ein Messgefäss ableitete. Dann gab man dem Hund Pfeffer oder andere Gewürze zu fressen und verglich die Ausscheidung. Seither weiß man auf die Kommastelle genau, dass Pfeffer die Galle zum Fließen bringt. Und dies ist eine der Hinsichten, in denen Menschen wie Hunde sind. Jene Erkenntnisse aber stammten aus einer Institution, die da hieß: Pharmakologisches Institut der Freien Universität Berlin. Kein Wunder habe ich später darauf bestanden, meine Kapital-Vorlesungen im Hörsaal der Pharmakologen abzuhalten. Es war jedenfalls das erste Mal, dass ich, wenngleich nur indirekt, von meiner späteren Arbeitgeberin lebte.

Das "Freie" in "Freie Universität" klang wie Glockengeläut in meiner Phantasie. Doch das allein erklärt noch nicht, warum ich diesem Sirenenklang folgen sollte. Dazu bedurfte es eines zweiten Grunds, der diesen ersten überdeterminierte. Dieser nun war groß und blond und auf eine Weise weiblich, die mich in ihrer Vollkommenheit einschüchterte. In der Tat stand sie, wie sie mir bald zu verstehen und nicht viel später zu sehen gab, Modell für einen schönheitsliebenden Hobbyfotografen, der im Hauptberuf Literaturprofessor war, sowie für einen alten Bildhauer, den vielleicht letzten damals noch lebenden Rodinschüler, einen veritablen Anarchisten mit schwarzer Fahne über seinem Gartenhaus, von dem ich bald Unterricht im richtigen Camembertgenuss erhalten sollte. Vielleicht hält eine seiner Skulpturen in den öffentlichen Anlagen Montpelliers die jugendliche Figur jener Schönheit, die uns zusammenbrachte, für immer fest. Nie hätte ich gewagt, ein Auge auf sie zu werfen, älter und vollkommen, wie sie war. Ich betrachtete sie aus der Peripherie meiner Augenwinkel. Sie hatte solche Maginalisierung ihres Interesses nicht nötig. Ein formeller Anlass führte uns flüchtig bei mir zusammen. "Bei mir" war ein kleines möbliertes Zimmer, in dem ich zur Untermiete bei einer angeblichen früheren Freundin Reiner Maria Rilkes wohnte, einer dürren, missgünstigen alten Jungfer, die mir in kurzer Zeit nicht weniger als vierunddreißig Nutzungseinschränkungen für das mit Stilmöbeln, Spitzendeckchen und Tüllvorhängen vollgestopfte Gelass auferlegte. Zu den Vergehen gehörte zweifellos Damenbesuch. Dieser nun ließ hier, den ältesten Trick anwendend, ein Notizbuch liegen.

Ich erinnere mich nicht, ob es schwer war, sie zu finden. Vermutlich enthielt das Heft ihre Adresse. Kurz und gut, ich brachte es zurück und lernte in den folgenden Tagen und Wochen so manches von ihr, unter anderem, dass sie aus Berlin war. Da fing der Name Freie Universität Berlin an, sich vom Bild der Hunde zu lösen, denen man das Geheimnis unserer Gallenausscheidung abquält hat. Die Freiheit nahm weibliche Züge an.

Im November 1956 reiste ich mit dem Interzonenzug nach Berlin. In der Boltzmannstraße belehrte mich die studentische Immatrikulationsreferentin, dass das Semester schon begonnen hatte und die Einschreibefrist abgelaufen war. Sie riet mir, mich als Gasthörer einschreiben zu lassen. Und da man sich in diesem Alter leicht gesellt, verloren wir uns nicht aus den Augen, vielmehr lernte ich bald ihre jüngere Schwester kennen, die ihr hier an meiner Seite seht. Ich meine mich noch genau an ihre Woolworth-Jeans zu erinnern, die ihren natürlichen Reizen den des Käthchens von Heilbronn hinzufügte, nämlich keine packende Aufmachung zu benötigen, die nur eine aufwendige Verpackung gewesen wäre, ohne die den Frauen zugedachte Alchymie des Make Up. Sie ähnelte einem Typ junger Frauen, den ich damals vor allem in Ostberlin sah. Doch ich schweife ab...

Da war ich nun in die große deutsche Stadt geraten. Was tut in dieser Lage ein schwäbisches Kleinstadtkind, das sich nie getraut hatte, hochdeutsch zu reden, das als erste Schriftsprache Französisch gelernt und sich in dieser fremden Haut zum ersten Mal seit der Pubertät zu Hause zu fühlen gelernt hatte? Unverzüglich belegte der Gasthörer, der ich war, akademischen Sprechunterricht. Den gab an der FU eine Schauspielerin namens Margot Stein. Bald hörte man mich immer von neuem aufsagen: "Es gibt in diesem Saale Ohren, die das Wort Blut nicht hören können." Gemeint war nicht das Blut der von den Pharmakologen gequälten Hunde, gemeint war das Blut Dantons und anderer Revolutionäre, die vom liberalen Lebenlassen und selber Gut-Leben nicht lassen konnten. So trat, über Georg Büchner und als Material von Hochdeutschübungen, zum erstenmal die Revolution in mein Leben.

Viel mächtiger zogen mich die stummen Zeugen an, an denen sich die Folgen jener präventiven Konterrevolution ablesen ließen, die als Nationalsozialismus die Deutschen in ihrer Mehrzahl hingerissen und zu Komplizen ihrer Mord- und Raubzüge hatten werden lassen. Das Berlin, in das ich kam, lag noch weithin in Trümmern. Aus den Ruinen meinte ich etwas zu erfahren, auch über mich selbst, eine Art von Wahrheit, die von den spiegelnden Fassaden des Wirtschaftswunders im Westen ausgeschlossen war. Doch wenn Berlin das Material lieferte, unterstützte mich die alte Heimat bei dem Versuch, was ich sah, in Form von Bilder und Erzählungen , Gedichte und Reportagen zu bringen, indem sie mir die Möglichkeit bot, diese zu veröffentlichen. Dabei eiferte ich Tucholsky nach in der Zahl meiner Pseudonyme.

Noch heute scheint mir die treffende Antwort auf viele Fragen, die man mir stellt, "Ja und nein" zu lauten. Ja und nein war damals der Name einer Zeitschrift, die in meiner Heimatstadt, aus deren dumpfer Entfremdung ich geflohen war, vom Stadtjugendring finanziert wurde. In der Redaktion muss ich einen Gönner gehabt haben, vielleicht sogar jemanden, der mich als Trüffelschwein im Großstadtdschungel nutzte, während er selbst in Biedermannsverhältnissen gefangen war. Überhaupt schien die Geschichte dort hinter Schichten aus neuem Wohlstand verborgen. Unerwartet konnte sie den Mund auftun. Wenn ich mit meinem Vater über den Marktplatz ging, und der Gemüsemann ihn als "Kamerad Haug" ansprach, rührte ich an eine verschwiegene Kumpanei, für die es noch weniger Worte gab als für die sexuellen Phantasien, die mich umtrieben. Doch das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls brachte ich im Jugendorgan den Daheimgebliebenen in literarischer Form die Vorzüge der Zerstörung nahe, der die alte Hauptstadt zum Opfer gefallen war. Ich schrieb über Trümmer, über die baulichen, aber mehr noch die menschlichen, die es aus Kaiserzeit, durch Weltkrieg, Republik, Nazizeit und wieder Krieg ins westliche Nachkriegsberlin verschlagen hatte. Ich schrieb die wie von gesprungenen Schallplatten wiederholten Sprüche der Überlebenden auf und zeichnete ihre lernlosen Haltungen. Aus wie viel blinden Spiegelsplittern blickte mir da die deutsche Geschichte entgegen! Ich machte daraus eine Serie, das Berliner Tagebuch des Fritze Wolf, deren einzelne Folgen mit Überschriften versehen waren wie: "Auf der Suche nach einer verlorenen Stadt", "Botschaften aus einer toten Stadt", "Ein Gesicht ohne Gesicht", "Babel unter der Erde", "Die Tauben und der Tod", "Mein Friseur erzählt aus Kaisers Zeit". Diese Tür zur Veröffentlichung schlug jäh zu, als ich anlässlich des Mauerbaus unter dem Titel "Freiheit... unterzugehen?" einige Thesen zu Berlin veröffentlichte, in denen ich angesichts der Gefahr eines Ost-West-Krieges den Status quo im Sinne einer Koexistenz zu akzeptieren vorschlug. Das war im November 1961. Zum ersten Mal erfuhr ich politische Repression. Es war wie eine Ausbürgerung aus der alten Heimat. Jetzt wusste ich eine neue Antwort auf die Frage, warum ich nach Berlin gegangen war. Denn dort hatte ich inzwischen eine neue Plattform für meine Schriftstellerei gefunden. Oder sagen wir bescheidener: geschaffen. Denn so einfach war es auch dort nicht, dass man im freien Westen der geteilten Stadt die ungeteilte Freiheit geduldet hätte, anders als die Regierung zu denken, die sich über populistischen Antikommunismus und auf die Bild-Zeitung schielend Konsens verschaffte. Doch gab es, kraft des Gesetzes der großen Zahl, genügend intellektuelle Neugierde, gepaart mit politischer und kultureller Unzufriedenheit. Und wo dieses Gesetz nicht ausreichte, tat die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ein Übriges, indem sie Westberlin dank dem Viermächtestatus zur einberufungsfreien Zone machte. Berlinluft macht frei, hieß es künftig für die westlichen Wehrpflichtigen, und so strömte über die Jahre ein gewaltiges intellektuelles Potenzial in die Stadt. Ich selber, der ich zu einem der letzten "weißen Jahrgänge" gehörte, also selber nie zur Bundeswehr eingezogen werden konnte, habe in der Folge von diesen Fahnenflüchtigen das meiste für meine persönliche Entfaltung gewonnen, Echo, Korrektur, Orientierung, Kooperation, Freunde und Feinde und unendlich viel Material. Ich weiß nicht, wer ich ohne dieses intellektuelle Milieu geworden wäre. Das Medium, das sich mir seit dem 2. Mai 1959 wie im Traum, freilich nicht ohne lebensverschlingende Arbeiten - Frigga und ich pflegten es "den Moloch" zu nennen -, gründete, machte mich zu seinem Medium. Es fing damit an, dass ich in einer Sitzung der Studentengruppe gegen Atomrüstung, in die Margherita von Brentano mich mitgeschleppt hatte, den Finger hob, als in allgemeiner Ermattung gefragt wurde, ob denn niemand da sei, um die eingeschlafene Flugblattreihe "argumente" wiederzubeleben. So entstand "Das Argument". Meine Rolle war dienend, angefangen bei allem technischen, aber darüber hinaus in einem Sinn, den man mit der Wirkungsweise eines Katalysators vergleichen könnte, bliebe ein Katalysator nicht von den Prozessen, die er auslöst, unberührt, denn ich blieb weiß Gott nicht unberührt, und ich erinnere mich an das unwillige Erstaunen so mancher älteren Weggefährten, das Gefühl des Ungehörigen, fast des Tabubruchs, das mich selbst überkam, als ich meinen ersten selbständigen Text - er ging über Warenästhetik - in der Zeitschrift veröffentlichte. Von nun an war "Das Argument" für mich das, was man im Sinne einer Kompensation biologischer Insuffizienz ein "Organ" nennt. Doch weiterhin blieb ich der Menschenfischer, Arbeitsantreiber. Durch die Jahrzehnte kriegten wieviele Menschen in dieser Stadt ein schlechtes Gewissen, wenn sie mich kommen sahen, weil sie irgendeinen versprochenen Text nicht oder noch nicht geliefert hatten. Wie sehr hätte es sie erleichtert, wäre ich schon früher wieder weggezogen aus dieser Stadt. Bedenkt man, was uns allen damit erspart geblieben wäre! Allein der FU, wo ich vor Jahren vom damaligen Vizepräsidenten höchst persönlich einem Verhör unterzogen worden bin, das keinen andern Anlass hatte als den massenhaften Zustrom zu dem, was ein Philosophieprofessor "den Monsterkurs" nannte, den von Tausenden besuchten Grundkurs "Philosophie und Kritik der politischen Ökonomie", vulgo "Kapitalkurs", der mir die größten Karriereschwierigkeiten und dem Institut für Philosophie, dessen Mehrheit mich stützte, schließlich einen totalen Einstellungsstopp eintrug, bis jener Kompromiss ausgehandelt wurde, der, eingewickelt in die Neueinstellung von rund 20 Kollegen (sie waren allesamt männlich) bürgerlicheren Zuschnitts, auch meine Berufung auf einen kleinen Lehrstuhl und als Einmannbetrieb brachte, ein Vorgang, dessen Pointe viel zu wenig gewürdigt worden ist. Sie erinnert mich an eine Szene bei Hasek, wo der Schwejk, um seine Narrenfreiheit zu befestigen, sich als "behördlich anerkannten" Trottel ausweist. Nun gut, der Minister, Peter Glotz, erklärte bei meiner Berufung, ich würde nicht nur als Marxist (er meinte: obwohl Marxist) eingestellt, sondern ich dürfe auch marxistisch lehren. Kurz, ich war der einzige Fall behördlich anerkannten Marxisten in der Geschichte der bundesdeutschen Hochschule. Das war 1979, und die Regierung war, als sie mich berief, bereits abgewählt. Die "Welt" schrieb, der hochschulpolitische Mann Moskaus Nr. 1 sei berufen worden, während die FAZ sich in einer Leitglosse damit beschied, mich einen "Organisator der Macht" zu nennen (das bedeutete: von Gegenmacht). Mein Institut aber war in der Folge so glücklich über das Kuriosum, den einzigen behördlich lizensierten Marxisten unter sich zu haben, dass es ein paar Jahre später zuerst im Studienplan die von mir vertretenen Gebiete löschte und bald überdies meinen kleinen Lehrstuhl mit dem Vermerk "kw" versah - das bedeutet: "kann wegfallen". So bin ich zwar nicht um-, aber doch weggefallen. Dabei hatte mich Margherita von Brentano, die mich einst in die Lage gebracht hatte, dass "Das Argument" sich um mich herum bilden konnte, eines Tages, nachdem zum zweiten Mal die Berufungsliste zurückgewiesen worden war, zur Seite genommen, und - ich höre noch ihre Stimme -, gesagt: "Wolf, seien Sie doch einmal gut materialistisch und hören Sie mit dem Kapital-Kurs auf." Wer nicht hören will, muss fühlen. Ich habe nicht auf sie gehört, und die Folgen waren nicht zu "überfühlen". Doch was wiegen diese Zurücksetzungen im Rückblick gegen das Scheitern, die Brüche, die Verfeindungen. Was war das für ein Lehrer, dessen Schülerschaft sich unter großen Verletzungen, aus welchen Gründen auch immer, alle paar Jahre spaltete oder abspaltete, der, selber in permanenter Überbeanspruchung existierend, Menschen immer wieder in ebensolchen Stress hineinzog. Zum Triumph besteht kein Anlass, auch wenn ich darüber glücklich bin, zuletzt mit anderen zusammenwirkend dazu beigetragen zu haben, dass ein Diskussionszusammenhang in Gestalt des InkriT rund ums Wörterbuchprojekt entstanden ist, der es uns erlaubt, aus Berlin weg- und allmählich ins Honoratiorenglied zurückzutreten, ohne befürchten zu müssen, dass er stirbt, wenn wir sterben, oder ohne dass wir sterben müssen, dass er leben kann. Warum also, frage ich ernsthaft zurück, sollten wir nicht von Berlin wegziehen?

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