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H i g h - T e c h - K a p i t a l i s m u s

Analysen zu
Produktionsweise -- Arbeit -- Sexualität -- Krieg & Hegemonie

 

Vorwort

Die hier zusammengefassten Versuche, einzelne Aspekte des High-Tech-Kapitalismus auszuloten und es mit hemmend gewordenen Denkweisen aufzunehmen, sind zwischen 2000 und 2003 entstanden, doch ihre Wurzeln reichen in die 1970er und frühen 80er Jahre zurück. Als Zaungast profitierte ich damals von den empirischen Untersuchungen des >Projekts Automation und Qualifikation< (PAQ) und beteiligte mich an den theoretischen Auswertungen und Kontroversen. Dass die gewonnenen Einblicke Fragen aufgeworfen haben, die in verwandelter Form noch immer virulent sind und daher auch den folgenden Versuchen zu Grunde liegen, zeigt besser als alles, was hier versichert werden könnte, die 1981 entstandene Problemskizze Zur Kritik des Verelendungsdiskurses. Sie galt einer Frontstellung, von der sich eine Linie zu den Auseinandersetzungen im zweiten Teil dieses Buches ziehen lässt. Jenen kleinen Text stelle ich daher als nunmehr schon historische Referenz den aktuellen Analysen voran.
  Um die Mitte der 80er Jahre -- ich lernte gerade, mit meinem ersten PC umzugehen -- begann ich Material zu sammeln und theoretische Skizzen zu verfertigen für ein Buch Zur Archäologie des High-Tech-Kapitalismus. Der Akzent lag dabei -- anders als bei den zeitgenössisch aufschießenden Diskursen zu >Informations-< oder >Wissensgesellschaft< sowie >High-Tech-Revolution< (vgl. etwa Kreibich 1986) -- auf der kapitaldominierten Zusammenfügung von Arbeitskräften und neuen Technologien und den entsprechenden Umwälzungen der verschiedenen Sphären des Sozialen. Aus dieser Arbeit riss mich die sowjetische Perestrojkapolitik unter Gorbatschow. Sie vermochte das, weil sie sich die -- im Rückblick illusionär anmutende -- Aufgabe eines >Übergangs zum High-Tech-Sozialismus< stellte.1 So blieb das Archäologie-Konvolut liegen. Es beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem vielzitierten Satz von Karl Marx:

>Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.<
Elend der Philosophie (1847), MEW 4, 130

Wenn diesem technodeterministisch klingenden, suggestiven Diktum zufolge Feudalismus und Industriekapitalismus sich aus dem jeweiligen Stand der Antriebskräfte ^ergaben^^ und es so aussah, als müsse sich aus einer grundlegend über die Dampfmaschine hinausgehenden Produktivkraftentwicklung notwendig eine postkapitalistische Gesellschaft >ergeben<, so verfolgte bereits Marx im Zuge der Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie den Zusammenhang von >Vermehrung der Produktivität der Arbeit, Änderung der Produktionsweise< (MEW 26.3, 304)2 ins Innerkapitalistische. Die wissenschaftlich-technischen Revolutionen hatten ja seit 1847 die Gestalten von Kapitalist und Lohnarbeiter mitsamt ihrer beider Beziehung zu Politik und Staat immer wieder verändert. Erst recht hundert Jahre später: Aus dem persönlichen industriellen Kapitalisten war die société anonyme geworden, die dem zersplitterten Kapitaleigentum der Aktionäre -- neudeutsch Shareholder -- die konzentrierte Verfügungsmacht der Spitzenmanager gegenüberstellt. Die gewerkschaftlich aggregierte Macht derer, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, hatte den sozialstaatlichen Kompromiss erreicht und -- abgesehen von den Intervallen direkter, zuletzt faschistischer Herrschaft -- die Klassenkämpfe in die Grenzen des Aushandelns der Tarifverträge gebannt. Aus den Proletariern, von denen gesagt werden konnte, dass sie kein Vaterland und außer ihren Ketten nichts zu verlieren hätten, waren nationale Staatsbürger-Konsumenten geworden, die eifersüchtig ihre Vorrechte gegenüber den aus den Randzonen hinzudrängenden Arbeitsmigranten bewachten. Das Fließband, das den Arbeiter in eine monoton-repetitive Einzeltätigkeit einschloss und an seinen Platz bannte, während es den Arbeitsgegenstand in Bewegung setzte, war zur Technobasis einer Rationalisierung geworden, die von der Fabrik auf alle regulationsrelevanten Bereiche und Institutionen ausstrahlte.
  Zur Zeit der ersten großen Krise dieser Produktionsweise fasste Antonio Gramsci deren spezifische Bestimmungen unterm Begriff des Fordismus zusammen. Inzwischen ist, was diesem Begriff einmal seinen epochalen Gehalt gegeben hat, mehr oder weniger vergangene Geschichte. Dass Gramsci nicht darauf gewartet hat, seinen Geist wie Hegels Eule der Minerva erst nachträglich losfliegen zu lassen, dass er zu denken wagte, was unter seinen Augen vorging, trägt heute dazu bei, seinen Namen im Bewusstsein einer Nachwelt festzuhalten, die zu ihrer Beschämung gestehen muss, dass das Wort Fordismus in ihren Wortschatz erst eingedrungen ist, als die Sache bereits in Aufhebung begriffen war.
  Inzwischen durfte man der Frage nicht mehr ausweichen: Welche Gesellschaft würde der Computer mit seinen ständig expandierenden Anwendungen ^ergeben^^? Vor einem halben Jahrhundert sagte der große marxistische Komponist Hanns Eisler in seinen Gesprächen mit Hans Bunge, er habe >gewissermassen hineingeblättert, hineingerochen in die Kybernetik< und dabei begriffen: >Damit beginnt nicht nur, wie man sagt, die dritte industrielle Revolution, sondern etwas mehr. Es beginnt ein Kapitel der Geschichte der Menschheit, das nicht vorauszusehen ist. Wir haben nur die Vorgefühle, den Vormorgen.< (1975, 242) Das war vom Standpunkt eines Kommunisten gesprochen, der noch an die Entwicklungsmöglichkeiten des Staatssozialismus glauben und von diesem die Weiterentwicklung der Vergesellschaftungsweise ins Weltweit-Solidarische und Produktive erwarten konnte. Für die welthistorisch Ernüchterten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert stellte sich die Frage unfreundlicher, aber präziser: Was für eine Gesellschaft würde die klassen-antagonistische und neoimperialistische Nutzung der Computer und des Ensembles der auf ihm basierenden Produktions-, Distributions-, Kultur- und Kriegstechniken ergeben? Während der industrielle Kapitalist vollends zum >gesichtslosen kollektiven Kapitalisten< geworden schien, >der aus Finanzströmen besteht, die durch die elektronischen Netzwerke in Gang gehalten werden< (Castells 2001, 532; zur Kritik vgl. Dörre 2002, 87), fraß in der Arbeitswelt die Revolutionierung der Produktivkräfte ihre Väter. Der Zuwachs an Arbeitsproduktivität verringerte, gemessen am Ausstoß, den Arbeitsbedarf, und die dem Kapitalverhältnis immanenten Grenzen des Wachstums konvertierten die wachsende Arbeitsproduktivität in Massenarbeitslosigkeit. Wenn das Fließband den Massenarbeiter und die Macht der Gewerkschaft möglich gemacht hatte, so der Computer mit der flexiblen Automation den ^individualisierten Informationsarbeiter^^ und die tendenzielle Entmachtung der großen Einheitsgewerkschaften.
  Der Computer, der den Begriff der Information in den mythischen Himmel einer Weltformeltheorie katapultiert hat (vgl. Kap. 4), lässt sich als Leittechnologie begreifen, die einen allgemeinen technologischen ^Quantensprung^^ ermöglicht hat. Er lieferte die integrierende Technik der Automation; Forschung und Entwicklung, Produktion, Unterhaltung und nicht zuletzt der Krieg sind ohne ihn nicht mehr zu denken. Dass er mit der >staatlichen Produktionsweise< (Lefebvre) des sowjetischen >Sicherheitsstaats< unvereinbar war, hat dieser den Garaus gemacht und die Perestrojka zum Scheitern verurteilt. Im Westen gerieten die im Fordismus errungenen Sozialkompromisse ins Wanken. Das >sozialdemokratische Zeitalter< wich der neoliberalen Hegemonie. Die nationalstaatlichen Einbettungen des Kapitalverwertungsprozesses, die diesen sozial und ökologisch ^verträglich^^ machen sollten, erodierten unter Bedingungen globaler Mobilität und informationstechnischer Integration des Kapitals. Mit satellitengestützter Kommunikation verbunden, hat der Computer in den 1990er Jahren das Internet als erdumspannendes Transportsystem digitalisierter Gebilde verallgemeinert und damit den von der globalen Reichweite der Produktivkräfte ins Transnationale getriebenen Produktionsverhältnissen ihr adäquates Medium verschafft (vgl. Kap. 3). Alle internationalen Beziehungen sind seither von dieser Dynamik erfasst und destabilisiert worden. Transnationale Kapitalverhältnisse verlangen nach transnationaler Regulation und Einbettung. Wieder versucht dieses Bedürfnis sich mit aller Gewalt gegenüber den regulationsrelevanten Bereichen und Institutionen geltend zu machen. Was sozialliberal als >global governance<, bei einer gewissen Linken als >Imperium< durch die Diskurse geistert, hat darin seine Basis: Alle Kräfteverhältnisse kulminieren heute im Ringen um Regulation des Weltmarkts bei Deregulierung der Nationalstaaten, wobei freilich der übermächtige Nationalstaat der USA die Regeln diktiert oder, wenn ihm das nicht glückt, boykottiert. >Nuklear-Sprengkraft entwickelte dieser Streit<, heißt es in einem Leitartikel der FAZ, >weil es in ihm um die Weltordnung des 21. Jahrhunderts geht< (Kohler 2003b).
  Zurück zur Frage, was auf Basis des Computers aus der (kapitalistischen) Gesellschaft wird. Im affirmativen Blätterwald rauscht es schon lange von >Informations-< oder >Wissensgesellschaft<, während etwa Manuel Castells wenigstens darauf besteht, man müsse >das neue techno-ökonomische System adäquat als informationellen Kapitalismus bezeichnen< (2001, 19), wobei er freilich dessen Wertquelle in die Zirkulationssphäre des Finanzkapitals verlegt.3 Selbst jetzt zeigt man sich weiter links noch immer geradezu ungläubig-erstaunt, dass >manche Theoretiker schon erste Anzeichen eines Postfordismus zu identifizieren meinen< (Altvater/Mahnkopf 2002, 25).
  Gegen solches Zögern, dessen Ursachen im ersten Kapitel nachgegangen wird, tritt nun hier mit einer gewissen Ungeduld der Titelbegriff High-Tech-Kapitalismus auf. Zu seiner umfassenden theoretischen Ausarbeitung fehlt noch vieles, und sie kann -- falls dieser Begriff nicht einem besseren Platz machen muss -- nur das Werk vieler sein. Für die folgenden Überlegungen, die notgedrungen nur einzelnen Aspekten der damit gemeinten ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse gelten, mag er in seiner Allgemeinheit vielleicht zu anspruchsvoll wirken. Unbefriedigend ist zudem der -- wie bei der Rede von den >Neuen Technologien< -- immer bloß relative Sinn des Ausdrucks >High Tech<; wörtlich genommen, gab es neue und im Vergleich zu etablierten Standards höhere Technologie zu allen Zeiten, in denen der menschlichen Arbeit neue Produktivkraft erschlossen wurde. Zunächst schien es genauer, von >elektronisch-automatischer Produktionsweise< (Haug 1984a;vgl. Ohm 2003) zu sprechen, doch erscheint dieser Name inzwischen zu eng, um die Vielfalt der Anwendungen und der auf jener Grundlage entwickelten Technologien zu bezeichnen. Wenn Sartre sich einst den Namen Existenzialismus von den Journalisten anhängen ließ, wie wir von Maurice Merleau-Ponty wissen (1948, 84), so braucht sich die Sozialtheorie nicht zimperlicher anzustellen als die Philosophie: >High Tech< hat sich als Redeweise allgemein, auch international, durchgesetzt; nun gilt es, aus der Kategorie einen Begriff zu machen. Entscheidend dabei ist der ungetrübte Blick auf die Kapitaldominanz in der selektiven Realisierung des von der Leitproduktivkraft des Computers ermöglichten allgemeinen >Sprungs der Produktivkräfte< (Müller 1988, 69). Umgekehrt gilt es, die Veränderungen des Kapitalismus -- als Ökonomie wie als Kultur 4 -- auf Grundlage der so entwickelten Produktivkräfte zu fassen.
  Im Allgemeinen ist schon vieles gesagt. Nun kommt es darauf an, spezifischer zu werden, sich ins Konkrete vorzutasten, dabei Schneisen durch hinderlich gewordene Denkmuster zu schlagen und die von der Kritik der politischen Ökonomie und der seitherigen Theoriegeschichte bereitgestellten Denkmittel der veränderten Wirklichkeit gemäß weiterzuentwickeln. Die folgenden Beiträge wollen ihre Zeitgebundenheit nicht verleugnen, sondern, im Gegenteil, einen Erkenntnisnutzen daraus ziehen. Bacons Satz, >die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit<, gilt doppelt bei Analysen, die man versucht ist, Beiträge zur Archäologie der Zukunft in der Gegenwart zu nennen. Vom Veralteten hebt sich das noch immer oder gar erst recht Aktuelle deutlicher ab. Im vorangestellten Referenztext hebt sich vom Schnee von gestern, dem Schrecken der japanischen Konkurrenz, das noch immer kaum angenommene, geschweige denn gelöste theoretisch-praktische Problem ab, mit einer von der Produktionsweise ausstrahlenden Umwälzung aller Lebensverhältnisse klarzukommen. Die Krise der Neuen Ökonomie, die im vierten Kapitel zu einem Zeitpunkt vorhergesagt wird, da dem Glauben an die endgültige Überwindung der Krisen im amerikanischen Wirtschaftswunder noch der Tag gehörte (vgl. Kap. 3), ist inzwischen vergangener Ursprung gegenwärtiger Strukturen. Die Analyse (in den Kapiteln 11 und 12) zu jenem geschichtlichen Moment, in welchem die US-Regierung ihr Quasimonopol, das ihr Militärapparat auf dem ^elektronisch integrierten Schlachtfeld^^ innehat, in politischen Unilateralismus ummünzte, hält einen Bruch fest, an dessen Kaschierung eifrig gearbeitet wird.
  Methodisch ist im Sinne des sozioanalytischen Programms eine Dimension allgegenwärtig, die man als materiale Diskursanalyse bezeichnen kann. Sie zieht die Konsequenz daraus, dass Objektivität nie direkt und zweifelsfrei zu gewinnen ist, sondern immer nur prekär aus unaufhebbarer Pluralität der Perspektiven und Vermittlungen durch (und als) >situiertes Wissen< (Haraway 1991, 183-201). Aus dieser unvermeidlichen Schwäche gilt es eine Stärke zu machen. Antonio Gramsci und Walter Benjamin haben vorgemacht, wie aus Zitaten ein Text aufgebaut werden kann, der den Ursprungstexten nie in den Sinn gekommen wäre. Zum Wirklichkeitsmaterial, das dem sozialen Gedächtnis in solchen Analysen aufbereitet und dadurch zugleich ^fotografisch^^ am Verschwinden gehindert wird, gehört das Stimmengewirr des jeweiligen Moments, das für gewöhnlich verfliegt, weil die Akteure tags darauf nicht mehr daran erinnert werden möchten. Eine Sozioanalyse 5, die aus solchem Material sich herausarbeitet, wird darauf bedacht sein, sowohl auf der Seite der Erkenntnisobjekte als auch der theoretischen Verallgemeinerung die Spuren des Werdens zu bewahren.
Esslingen, im Mai 2003
Wolfgang Fritz Haug


1 So heißt ein Kapitel meiner Studie von 1989. Wie ein roter Faden durchzieht die Frage nach Bedingungen und Perspektiven der >High-Tech-Revolution< das direkt anschließende Perestrojka-Journal (1990), in dem ich den >Ideismus< jener Studie den rauhen Tatsachen aussetze.

2 >Der einzige sonstige Fall, wo bei gleichbleibender Anzahl Arbeiter mehr Kapital pro rata auf ihn zukommen, und daher surplus capital zu vermehrter Exploitation derselben [...] verausgabt werden kann, ist Vermehrung der Produktivität der Arbeit, Änderung der Produktionsweise.< (26.3, 304)

3 Zur Kritik von Castells' Begriff des Informationskapitalismus vgl. Jessop 2002, 781f, u. Mikiya Heise 2002.

4 >Kapitalismus als Kultur< -- Dieter Claessens und Karin Claessens haben unter diesem Gesichtspunkt Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft untersucht (1973).

5 Dieser nach dem Vorbild des Ausdrucks >Psychoanalyse< gebildete programmatische Begriff, der einer epistemologischen Wunschmaschine gleichen mag, steht für eine Methodik ökonomiekritisch, ideologietheoretisch und praxisphilosophisch fundierter Materialanalyse, wie ich sie in einer Reihe von Untersuchungen praktiziert habe (vgl. bes. die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts von 1986). In der ersten Auflage meiner Vorlesungen zur Einführung ins Kapital hat der Verlagslektor den Ausdruck >Sozioanalyse< noch für einen Schreibfehler gehalten und durch >sozialistische Analyse< ersetzt (1974, 121), was zu wilden ^Entlarvungen^^ Anlass gegeben hat, die, obwohl die korrigierte zweite Auflage (1976, 124) seither mehrfach nachgedruckt worden ist, noch jüngst wiederbelebt worden sind (Backhaus 1997, 168).

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