Marcuse, Herbert, One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Routledge & Kegan Paul Ltd., London 1964 (XVII und 257 S., 24.— DM)[1]

Das Buch, das im Folgenden besprochen werden soll, steht mit den in dieser Zeitschrift ausgeführten Untersuchungen und Begriffsentfaltungen in engem Zusammenhang. Nicht nur diese Verwandtschaft erschwert die Besprechung. Die Stärke der kritischen Theorie, daher auch die größere Leichtigkeit ihrer Anwendung, beruht im qualifizierten Nein zu realen und ideologischen Gestalten der Unfreiheit. Ihr schwächster Punkt, dem Marcuse voll Rechnung trägt, ist ihre durchs Fehlen einer gesellschaftlichen Basis erzwungene Abstraktheit und Kontemplativität. Wo ihr Nein systematisch, als kritische Theorie des Ganzen, ausformuliert und ihr eigener Gegenstand wird, tendiert es dahin, sich zu formalisieren zum Nein überhaupt, zur vor aller Geschichte diese bedingenden Struktur. Kritik an dieser Tendenz begegnet darin ihren eigenen, objektiv vorgezeichneten Schwierigkeiten.

Marcuses Buch gibt, auf die fortgeschrittenen Industriegesellschaften als auf den historischen Standard bezogen, eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Das Großartige daran ist der durchweg festgehaltene ‚utopische' Zielbegriff, von dem aus das Bestehende analysiert wird. Dieser Zielbegriff, so vielschichtig und problematisch er ist, steht auf sicherer berechenbar-empirischer Grundlage: »Die bestehende Gesellschaft verfügt über eine feststellbare Quantität und Qualität materieller und intellektueller Ressourcen. Wie können diese Ressourcen verwendet werden für die optimale Entwicklung und Befriedigung individueller Bedürfnisse und Fähigkeiten mit einem Minimum an Mühe und Elend?» (XI). Diese Utopie ist konkret genug, dass sie nicht der Ausrichtung an einem bestimmten Menschenbild oder an neuen ,Werten' bedarf; der technologische Fortschritt macht deren »Übersetzung in technische Aufgaben« möglich. »Berechenbar ist z. B. das Minimum von Arbeit, mit der — und das Ausmaß, in dem — die Lebensbedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder befriedigt werden könnten — vorausgesetzt, die verfügbaren Kräfte würden für diesen Zweck eingesetzt werden, ohne von anderen Interessen beschränkt zu werden und ohne die für die Entwicklung der betreffenden Gesellschaft nötige Kapitalakkumulation zu behindern. M.a.W.: quantifizierbar ist der erreichbare Grad der Freiheit von Mangel ... quantifizierbar ist die mögliche Reduktion von Angst, die mögliche Freiheit von Furcht« (232). Ergibt diese Rechnung eine Vorstellung vom Optimum und von den unüberschreitbaren Grenzen des objektiv Möglichen, dann sind damit zugleich die termini für eine distanzierende Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben. Verfolgt man das Bild, das Marcuse derart entwirft, so manifestieren sich die Schwierigkeiten der kritischen Theorie vor allem in zwei komplementären Zügen: zum einen stellen sich ihr positive und negative Momente in paradoxem Ineinander dar; zum andern weicht die Negation restlos aus dem Bestehenden zurück. Im Folgenden betrachten wir nacheinander diese beiden Aspekte.

Die »fortgeschrittene Industriegesellschaft«, die Marcuse beschreibt, ist ökonomisch potenziell krisenfest geworden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Entwicklung der Technologie die Grenzen zwischen den verschiedensten voneinander getrennten Bereichen überspielt und in einem einzigen Prozess von Machbarkeit und repressiver Verwaltung vereinigt hat: dies meint Marcuses Metapher von der Eindimensionalität. Die »unsichtbare Hand«, die nach der Auffassung des traditionellen Liberalismus die gegen- und auseinander treibenden Interessen harmonisieren sollte, ist heute die an den Naturwissenschaften geschulte manipulative Präformierung der materiellen und intellektuellen Bedürfnisse — freilich auch ihre Befriedigung in nie dagewesenem Ausmaß. Hebt der technologische Fortschritt die Differenz zwischen Bewusstsein und gesellschaftlich-materiellem Sein im Medium der Machbarkeit tendenziell auf, so scheint es, als habe die kritische Theorie es nur noch mit Bewusstsein. — und zwar mit ‚falschem Bewusstsein' — als Gegenstand wie auch als Gegner zu tun. Denn nicht mehr materielle Interessen treiben in den Industriegesellschaften unmittelbar die in Mühe und Unfreiheit gehaltenen Klassen zur Veränderung des Bestehenden. Die Arbeiterklasse ist affirmativ geworden. Kritik hat keinen sicheren Boden mehr in realen, politisch erlebten Frustrationen. ‚Falsches Bewusstsein' über die gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht mehr ohne weiteres durch Konfrontation mit der Wirklichkeit dieser Verhältnisse als falsch zu entlarven. Denn — so jedenfalls sieht es Marcuse in Übereinstimmung mit Adorno — die technologische Entwicklung hat eine »Verschiebung im Ort der Mystifizierung« hervorgebracht: Ideologie ist »verkörpert im Produktionsprozess selbst« (189). Nicht nur kann Ideologiekritik sich, wenn diese Auffassung zutrifft, nicht auf Tatsächlichkeit berufen und ist die Kritik falschen Bewusstseins zugleich die Kritik einer ,falschen Wirklichkeit'. Sondern es offenbaren kritisch gemeinte Begriffe wie ,Rationalität' bzw. ,Irrationalität' eine fundamentale Ambivalenz, die ihre unbefangene Verwendung verbietet: »das Rationale eher als das Irrationale wird zum wirksamsten Vehikel von Mystifizierung« (ebd.). An Begriffen wie ‚Interesse', ,Bedürfnis', ,Befriedigung' wird diese Verschiebung besonders deutlich. Das ‚Falsche' hat bereits in ihnen, die einmal Motor der Revolution waren, seinen sicheren Griff. In Marcuses Beschreibung dieses Tatbestands kommt seine Ambivalenz in einer Reihe von terminologischen Paradoxien zum Ausdruck: »Euphorie im Unglück«, »repressive (heteronome) Bedürfnisse« (5), Irrationalität des Rationalen (»even the most insane calculations are rational«, 52), »repressive Entsublimierung« (63ff; — »which extend liberty while intensifying domination«, 72), »repressive Befriedigung« (»Pleasure, thus adjusted, generates Submission«, 75). Die faktische Paradoxie scheint von der Kritik nicht mehr durchbrochen und aufgelöst, sondern nur noch benannt und reziprok bewertet werden zu können; »wo die etablierte Realität eher als ihr Gegensatz utopisch ist« (254). ,Falsches Bewusstsein', weit entfernt davon, einfacher Irrtum oder harmonisierende Illusion zu sein, ist Bewusstsein in statu corruptionis. Bedürfnisse und Genuss negieren nicht länger die Faktizität, sondern sind fest in diese eingebunden als Vehikel der Unterdrückung. Fast scheint es, als würde die Kritik in' dieser Situation auf das Gebiet von Moral und Askese gedrängt, wenn sie nur mehr mit den gedachten Menschen gegen die existierenden Menschen argumentieren kann. Ihre Ohnmacht kommt zum Ausdruck im verzweifelten Pathos des »Wirklichen« und »Eigentlichen« gegen das bloß »Faktische« und »Unmittelbare«, zumal in der kaum mehr kommunizierbaren Unterscheidung, die dennoch von grundlegender Wichtigkeit ist, »zwischen wirklichem und unmittelbarem Interesse« (XIII). Marx konnte noch davon ausgehen, dass das wirkliche Interesse der Arbeiterklasse einen Ort hat in ihren =Mittelbaren Interessen. »Heute erscheinen die rationalen und realistischen Begriffe von gestern mythologisch, wenn man sie mit den gegenwärtigen Bedingungen konfrontiert. Die Realität der arbeitenden Klassen in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft macht das marxsche ,Proletariat' zu einem mythologischen Begriff, die Realität des zeitgenössischen Sozialismus macht die marxsche Idee zu einem Traum ... Der unwissenschaftliche, spekulative Charakter der kritischen Theorie kommt vom spezifischen Charakter ihrer Begriffe; diese bezeichnen und definieren das Irrationale im Rationalen, die Mystifizierung in der Realität. In ihrer mythologischen Qualität spiegelt sich die mystifizierende Qualität der gegebenen Fakten — die trügerische Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche« (188f). Andererseits sind diese Widersprüche. größer denn je. Aber die neue Technologie sozialer Integration vereinigt die Gegensätze, deren Austragung sie verhindert. Dies spiegelt sich in der angepassten, »eindimensionalen« Sprechweise. Sie bewegt sich in Tautologien und Synonymen, niemals in qualitativer Differenz: die unversöhnlichsten Widersprüche werden in Familiarität eingebunden (»clean bomb«). »Einst als prinzipieller Verstoß gegen Logik angesehen, erscheint der Widerspruch nun als Prinzip der Logik von Manipulation — realistische Karikatur von Dialektik« (89). Es ist charakteristisch für die offizielle Sprache, die das Denken weitgehend kontrolliert, »indem sie den Begriffen Bilder substituiert«, dass sie nicht geglaubt werden muss. Sie ist eher dadurch bestimmt, »dass die Menschen sie nicht glauben oder sich nicht darum kümmern und dennoch entsprechend handeln« (103). Die ambivalente Einheit von Freilassung und Befriedigung einerseits, Entmündigung und Unterdrückung andererseits, hat ihre Entsprechung in der durchgehenden ambivalenten Einheit von Produktivität und Destruktivität. Die »Warfare«- und »Welfare«-Gesellschaft kann nur in permanenter Mobilmachung hinsichtlich des Konsums wie der Rüstung bestehen. Wo die Irrationalität am grellsten sichtbar wird und das Ganze mit Zerstörung bedroht, wird im Gespenst des historisch Möglichen die Ambivalenz am deutlichsten: »Weder die wachsende Produktivität noch der hohe Lebensstandard hängen von der äußeren Bedrohung ab, wohl aber ihre Benutzung zur Verhinderung gesellschaftlicher Veränderung und zur Perpetuierung von Knechtschaft. Der Feind ist der gemeinsame Nenner allen Tuns und Lassens. Und der Feind ist nicht identisch mit dem tatsächlichen Kommunismus oder dem tatsächlichen Kapitalismus — er ist in beiden Fällen das reale Gespenst der Befreiung« (51f). Wie die Befreiung, zum Bild des Feindes verzerrt, »von außen« zu drohen scheint, so ist auch die kritische Theorie gezwungen, »von außerhalb« zu kommen. Ihre Anstrengung des Begriffs verfällt nach Marcuse dem notwendigen Schein, eine »Regression« zu manifestieren »von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie. Dieser ideologische Charakter der Philosophie resultiert daraus, dass die Analyse gezwungen ist, vorzugehen von einer Position ‚außerhalb' des Positiven sowohl als des Negativen, der konstruktiven sowohl als der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft. Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser Gegensätze — in Frage steht das Ganze« (XIV). Es steht als Ganzes paradoxerweise gerade deshalb in Frage, weil zu seinen ‚positiven' Aspekten — dem beispiellosen Wohlstand, der Demokratisierung von Bildung und Konsum — schlechterdings nicht nein zu sagen ist. Die partielle Negation wäre reaktionär. Weil es zugleich keinen Teil der Gesellschaft mehr gibt, der sie radikal negiert, wird das Nein hinausgezwungen aus der faktischen Wirklichkeit, in der es weder einen Bundesgenossen noch einen eindeutigen Anhalt in Gestalt eines isolierbaren kritischen Motivs findet. An dieser Stelle schlägt die Ohnmacht der kritischen Theorie, gerade in der Totalität ihres Nein, sich in ihren Begriffen des in Frage stehenden Ganzen nieder. Dies wird deutlich, wenn Marcuse das »totalitäre Universum technologischer Rationalität« nurmehr geistesgeschichtlich bestimmen kann als »die letzte Verwandlung der Idee der Vernunft« (123). Terminologisch wie in seiner Gesamtkonzeption nähert sich Marcuse hier wieder der Lebensphilosophie und dem Existenzialismus. Um die Geschichtsmächtigkeit des »Logos von Herrschaft« zu begründen, bedient er sich recht problematischer Begriffe wie »Transzendenz«, »Entwurf« (project), »Wahl« und »Entscheidung«. »Die Art, in der eine Gesellschaft das Leben ihrer Mitglieder organisiert, involviert eine anfängliche [?] Wahl [initial choice] zwischen historischen Alternativen, die bestimmt sind vom überkommenen Stand der materiellen und intellektuellen Kultur. Die Wahl selbst resultiert [?] aus dem Spiel der herrschenden Interessen. Sie antizipiert spezifische Arten, Mensch und Natur zu transformieren und zu benutzen, und sie verwirft andere Arten. Sie ist ein ‚Entwurf' von Verwirklichung unter anderen«. Als den Grundentwurf der gegenwärtigen Industriegesellschaft sieht Marcuse »die Erfahrung, Transformation, Organisation der Natur als eines bloßen Stoffes von Herrschaft« (XVI). Dass derartige Redeweisen höchstens verkürzend-hypothetischen Anspruch erheben dürfen, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in Formulierungen, deren grammatikalisches Subjekt Begriffe wie »Wahl« und »Entwurf« sind — und nicht deren konkretes historisches Subjekt. Freilich kann auf derartige Redeweisen nicht verzichtet werden, schon »die Gesellschaft« ist nur problematisches, aber kaum schon existierendes Subjekt. Wird sie wiederum als von einem Grundentwurf hintergründig organisiert und gesteuert gedacht, ist die spiritualistische Verflüchtigung der realen Geschichte kaum noch aufzuhalten. ‚Entwürfe' existierten immer getrennt vom oder diskrepant zum materiellen Prozess. Wenn die Sachlage es nicht mehr zulässt (was wir hier nicht zu entscheiden wagen), den Akzent ihrer Darstellung auf die Produktionsverhältnisse zu legen, scheint die Dämonisierung der Produktionskräfte und, abstrakt gesprochen, des technologischen Impulses überhaupt, unvermeidlich. Dieses ,Dämonische' wäre aber nicht unmittelbar im ‚Entwurf' festzumachen, sondern es wäre allenfalls zu begreifen als dessen entfremdeter Reflex. Die Geschichte verläuft gerade insofern entfremdet, als in ihr das Gewollte nicht wiederzuerkennen ist; die Gesellschaft ist, auch für die Herrschenden, entfremdet gerade insofern, als sie anarchisch strukturiert ist. Würde die von Marcuse zum Leitbild seiner Darstellung genommene schwarze Utopie der Eindimensionalität mit ihrem »obscene merger of aesthetics and reality« (248), die phänomenologisch, in der ,offiziellen Oberfläche' des gesellschaftlichen Daseins, bereits dominiert, vollends zur Struktur von Wirklichkeit, verlören alle Unterscheidungen von der Art der obigen ihren Gehalt. Das Modell immanenter Teleologie von Herrschaft würde die heuristische Klammer sprengen, und Herrschaft schlechthin hätte sich als absurdes Subjekt der Welt etabliert, gegen das kein historischer Einspruch mehr möglich ist. Einige Passagen des marcuseschen Werkes tendieren dahin, diesen Prozess als schon abgeschlossen zu schildern. »In ihrem fortgeschrittenen Stadium funktioniert Herrschaft als Verwaltung, und in den überentwickelten Gebieten (overdeveloped areas) des Massenkonsums wird das verwaltete Leben zum good life des Ganzen, in dessen Verteidigung die Gegensätze vereint sind. Dies ist die reine Form von Herrschaft. Umgekehrt erscheint ihre Negation als die reine Form von Negation. Aller Inhalt scheint reduziert auf die eine abstrakte Forderung nach dem Ende von Herrschaft« (255). Angesichts der wirksamen Verdrängung dieser Forderung »erscheint diese Negation in der politisch ohnmächtigen Form der ,absoluten Weigerung' (absolute refusal)« (ebd.). Ihr bleibt Marcuse verhaftet, wo er Adornos Vorliebe für den beckettschen Absurdismus teilt (247). Im Gegensatz zu Adorno sieht aber Marcuse die Geschichte nicht durchweg und endgültig in die »overdeveloped areas« eingeschlossen. Er weiß, dass das Rationale noch nicht rational genug und das Universelle noch nicht universell genug ist. Unterhalb und außerhalb der fortgeschrittenen Industriegesellschaft beginnen die bisherigen outcasts in die Geschichte einzugreifen. »Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht abgebogen (deflected) vom System ... Die Tatsache, dass sie sich zu weigern beginnen, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Anfang vom Ende einer Periode bezeichnet« (257). Wolfg. Fritz Haug (Berlin)

 



[1] Aus: Das Argument 34, 7. Jg., Juli 1965, H. 3, 49-53.